Die 77-jährige Angeklagte ist sich zunächst keiner Schuld bewusst. Ihr wird ein ganzes Sammelsurium an Straftaten im Straßenverkehr vorgeworfen. Urteil: 3600 Euro Geldstrafe und ein Monat Fahrverbot.

Neustadt. Sie? Ein Verkehrsrowdy? Gegen dieses Etikett würde sich die Dame bestimmt aufs Energischste verwahren. Schon ihre kerzengerade, geradezu steife Körperhaltung spricht Bände darüber, wie deplatziert sich Gisela H. (Name geändert) auf der Anklagebank vorkommt. Dazu der würdevolle und zugleich peinlich berührte Blick der schlanken und zarten Frau, die aussieht, als komme sie geradewegs vom Friseur.

Nein, die 77-Jährige scheint meilenweit davon entfernt, sich auch nur das geringste Fehlverhalten ihrerseits vorstellen zu können. Und schon gar nicht drei Delikte auf einmal.

Doch tatsächlich wird der Medizinerin ein ganzes Sammelsurium an Straftaten im Straßenverkehr vorgeworfen, was sie jetzt als Angeklagte vor das Amtsgericht gebracht hat. Bei einem Tankstopp im vergangenen Mai fuhr sie laut Staatsanwaltschaft mit ihrem Wagen einem Mann über den Fuß. Als der sich nach der zu innigen und sehr schmerzhaften Begegnung mit dem Auto bei der Fahrerin beschwerte, hat Gisela H. demnach gefeixt: „Sie dicker, fetter Bastard, lassen Sie mich in Ruhe!“ Und anschließend, so wirft es die Anklage der Hamburgerin darüber hinaus vor, habe sie sich unerlaubt vom Unfallort entfernt. Einen Augenblick lang wirkt Gisela H. schicksalsergeben, dann schleicht sich plötzlich Entschlossenheit und eine gewisse Zähigkeit in ihre Züge. „Es tut mir leid, ich kann nicht etwas zugeben, was ich nicht gemacht habe“, seufzt Gisela H. nun und fingert an ihrer Perlenkette, die sie zu einem eleganten Hosenanzug trägt. Die Vorwürfe seien allesamt unzutreffend, insistiert die Angeklagte. „Und die Beleidigung, das ist schon fast komisch für mich“, ergänzt sie. „Das sind Worte, die ich gar nicht kenne.“ Der Amtsrichter hat sich den Gang der Verhandlung ganz anders vorgestellt. Nach intensivem Studium der Akten mit der Zeugenaussage des vermeintlichen Opfers und den Eindrücken aus einem Überwachungsvideo von der Tankstelle hält er die Vorwürfe für einen Fall, der höchstwahrscheinlich zu einem Schuldspruch führen wird. So hat er denn auch schon vor Wochen einen Strafbefehl, also eine Verurteilung im schriftlichen Verfahren, unterschrieben. Und deshalb rät er Gisela H. auch dringend, ihren Einspruch gegen die Entscheidung zurückzunehmen und das Urteil mit einer relativ moderaten Geldstrafe und einem Monat Fahrverbot zu akzeptieren.

„Wenn wir jetzt hier die Beweisaufnahme durchführen, kann es teurer werden“, warnt der Richter. Unter anderem drohe der Angeklagten dann sogar die Entziehung der Fahrerlaubnis. „Was ich hier mache, ist Fürsorgepflicht“, betont der Richter. „Ich weiß, was es bedeutet, einer 77-Jährigen den Führerschein zu entziehen.“ Da gebe es hohe Anforderungen für eine Neuerteilung, unter anderem mit einer Prüfung. Doch einen Monat auf ihr Auto zu verzichten, erscheint der Angeklagten als unzumutbare Belastung. Ein Ding der Unmöglichkeit, genau wie ein Geständnis. Sie habe den Mann an der Tankstelle mit ihrem Fahrzeug bestimmt nicht touchiert, versichert sie, auch wenn sie ihm möglicherweise mit dem Auto sehr nahe gekommen sei. „Er hat sich sicherlich erschrocken, und das tut mir leid.“ Aber sie als Ärztin kenne sich mit Notsituationen aus, betont Gisela H. „Wenn ich gedacht hätte, dass etwas passiert ist, hätte ich geholfen.“

Doch davon kann nach Aussage des mutmaßlichen Opfers keine Rede sein. Dramatisieren ist seine Sache nicht. Ein umgänglicher, ein besonnener Mann, der unaufgeregt schildert, wie Gisela H. an der Tankstelle ihr Auto ungeschickt manövriert habe und ihm dann über den Fuß gefahren sei. „Der Fuß ist noch dran, und es ist nichts gebrochen“, winkt der 35-Jährige ab. „Aber den Rest fand ich nicht so gut.“

Besagter Rest war nach seiner Darstellung ihre Reaktion, als er sie damit konfrontierte, dass sie ihn verletzt habe. Eine schnippische Kühe und eine unvorstellbar dreiste Herablassung, die demnach in der Titulierung „dicker, fetter Bastard“ gipfelte. Anschließend habe die Frau allerdings noch in aller Ruhe getankt und sei dann davon gefahren. „Und das“, sagt der Zeuge, „obwohl ich sie darauf aufmerksam gemacht habe, dass das Unfallflucht ist.“

Die Angeklagte Gisela H. ist jedoch immer noch nicht überzeugt. Also sehen sich die Verfahrensbeteiligten das Video aus einer Überwachungskamera an, die die entsprechende Sequenz aufgezeichnet hat. Wie die Seniorin mit ihrem Wagen gefährlich nah an den Zeugen heranfährt, ihn dann wohl touchiert und er plötzlich offenbar vor Schmerz den Fuß hochreißt. „Wollen Sie immer noch weiter verhandeln“, redet der Amtsrichter nun der 77-Jährigen ins Gewissen. „Nach der Zeugenaussage und dem Video?“ Nein, will Gisela H. offenbar nicht: Sie nimmt ihren Einspruch gegen den Strafbefehl zurück, das Urteil von 3600Euro Geldstrafe und einem Monat Fahrverbot akzeptiert sie nun. Aber nur äußerst ungern, wie ihre säuerliche Mimik nur zu deutlich verrät. Schuldbewusstsein, das steht fest, sieht anders aus.

Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall