Mit einem Seitenschneider hatte der Angeklagte den Schmuck eines 26-Jährigen aufgetrennt. Dem Polizisten wird deshalb Sachbeschädigung vorgeworfen.

Hamburg. Ein wilder, schwarz-grün gefärbter Haarputz, ein Ziegenbärtchen und etliche Piercings – Nico M. ist ein Mann, der auffällt. Und dem es ganz offensichtlich behagt, nonkonformistisch daherzukommen. Locker und fröhlich lächelnd grüßt der Mann in die Runde und lässt sich entspannt auf den ihm zugedachten Stuhl fallen. Ganz so, als ginge es um eine legere Plauderstunde im Bekanntenkreis.

Auch Thorsten H. (alle Namen geändert) ist ein Mann, der aus der Menge heraussticht – aber mit Attributen, die zu denen seines Gegenübers gegensätzlicher kaum sein könnten. Ein groß gewachsener Kerl mit rasiertem Schädel, ernstem Blick und tätowierten kräftigen Oberarmen.

Und ganz anders als sein Gegenüber strahlt der 32-Jährige Nervosität aus und Anspannung. Kein Wunder: Polizist Thorsten H. ist Angeklagter vor dem Amtsgericht. Und der gelassene Mann mit den bunten Haaren ist derjenige, dem er Unrecht zugefügt haben soll. Gewissermaßen Steine des Anstoßes waren demnach die diversen und so stolz zur Schau getragenen Piercings von Nico M., gegen die der Polizist laut Anklage seinerzeit mit schwerem Gerät vorging: Mit einem Seitenschneider trennte er demnach den Schmuck auf und entfernte ihn aus beiden Ohren des Mannes. Dem Polizisten wird deshalb Sachbeschädigung vorgeworfen.

Mit wohlgesetzten Worten und ruhiger Stimme stellt der Angeklagte seine Version dar, nach der der Vorgang vom 3. Juni 2011 nichts wirklich Außergewöhnliches war und vor allem absolut gerechtfertigt. Nico M. sei als Verdächtiger auf der Wache in einen Durchsuchungsraum getragen worden, „weil er nicht gehen konnte oder wollte“, setzt der Polizeibeamte an. „Er hatte mehrere Arten von Körperschmuck. Ich bat ihn, den abzunehmen, weil es Dinge waren, die durchaus geeignet wären, sich selbst oder uns zu verletzen.“

Einen Ohrring könne man beispielsweise „aufbiegen, die Wange aufritzen, ins Auge stechen – was auch immer“. Der Mann habe sich jedoch geweigert, also habe er angedroht, den Seitenschneider einzusetzen. „Vor jedem einzelnen Ring habe ich ihn erneut gefragt, ob er ihn nicht selber entfernen möchte.“ Dann habe er jeweils den Schmuck durchtrennt, aufgebogen und vorsichtig entnommen, betont Thorsten H. Verletzungen, die der Verdächtige später geltend gemacht hat, seien ihm „nicht durch mich zugefügt worden. Er wurde nirgendwo gegen geworfen oder so.“

Doch Zeuge Nico M. empfand es als „recht unsanft“, wie er zur Wache transportiert wurde. Dabei sei er zweimal auf dem Boden aufgeschlagen und auch einmal „fallen gelassen worden“ und habe sich dabei eine Verletzung an der Stirn zugezogen. Dann hätten ihn die Beamten an seiner Halskette „weitergeschleift“, sagt der Zeuge. „Ich habe den Mund aufgemacht, weil ich keine Luft mehr bekam, aber das war denen relativ egal.“ Hintergrund für den Transport zur Wache war der Verdacht, dass er in einem Etablissement auf dem Kiez einen Tisch beschmiert habe. Seine Personalien habe er nicht angeben wollen.

„Und dann ging es los, die Piercings zu entfernen.“ Als er das nicht selbst machen wollte, habe Polizist Thorsten H. ihm gedroht: „‚Wir können auch anders. Dann holen wir die Kneifzange.‘ Die eigentliche Prozedur ging recht schweigend vonstatten. Es war schmerzhaft, aber aushaltbar“, sagt der Zeuge schulterzuckend. „Ich habe mich nicht geäußert.“ Ein Piercing aus der Nase habe er selbst abgenommen, das in den Lippen habe er behalten dürfen, erinnert sich der 26-Jährige.

Mehrere Kollegen des Angeklagten erwecken in ihrer Zeugenaussage den Eindruck, als sei das Rausnehmen von Piercings üblich. Doch der Chef der Davidwache betont, dass es „generell eine Einzelfallentscheidung“ sei, ob vermeintlich gefährliche Gegenstände abgenommen werden. Piercings würde er im Zweifelsfall „nicht rausnehmen“, sagt der 46-Jährige. „Mir ist keine Praxis bekannt.“ Allerdings könnten Polizeibeamte dies zu ihrer Eigensicherung machen, ergänzt der Beamte. Jedenfalls ist der Angeklagte auch nach der Beweisaufnahme von seinem rechtmäßigen Verhalten überzeugt: „Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“, sagt er mit fester Stimme.

Am Ende spricht die Amtsrichterin den Polizeibeamten wegen Sachbeschädigung schuldig und verwarnt ihn. Eine Geldstrafe von 900 Euro (30 Tagessätze zu 30 Euro) bleibt vorbehalten. Die Frage sei, betont die Richterin, ob das Entfernen der Piercings mit dem Seitenschneider „gerechtfertigt war, also ob sie bei missbräuchlicher Verwendung eine Gefahr bedeuten. Aber ich habe Zweifel, dass sie gefährliche Gegenstände sind.“ Zudem habe Nico M. durch sein durchweg passives Verhalten keinen Anhaltspunkt dafür gegeben, dass von ihm Aggressionen drohen. Das friedfertige Schmunzeln des Mannes scheint ihre Ansicht zu bestätigen. Nico M. wirkt zufrieden. Gedankenverloren dreht er an einem seiner Piercings.

Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall