Der deutsche Schiffbau steht weiter schwer unter Druck. VSM-Verbandschef Reinhard Lüken sieht aber Chancen in der Öl- und Erdgasförderung auf hoher See.
Hamburg Als Reinhard Lüken Ende 2012 von Brüssel nach Hamburg kam, zog er von der Theorie um einige Kilometer näher an die Praxis heran. „Die maritime Wirtschaft in Hamburg ist äußerst präsent und kompetent. Das fiel mir sofort auf, nachdem ich aus Brüssel hierher gewechselt war“, sagt er in seinem Büro im Slomanhaus beim Baumwall. Lüken, 45, wechselte als erfahrener Lobbyist der Schiffbauwirtschaft an die Elbe. In Brüssel hatte er zuletzt als General Secretary des europäischen Schiffbauverbands CESA gearbeitet. Als Hauptgeschäftsführer des Verbands für Schiffbau und Meerestechnik (VSM) vertritt er nun die Interessen der deutschen Schiffbauindustrie. Anders als in Brüssel allerdings hat er Schiffbau und Schifffahrt in Hamburg täglich vor Augen. Der Hafen und die Großwerft Blohm+Voss liegen fast in Sichtweise seines Büros.
Lüken, der aus der Hafen- und Schifffahrtsstadt Leer in Ostfriesland stammt, hat die operative Führung des VSM in schwerer Zeit übernommen. Die deutsche Werftindustrie steht seit Jahren in der Defensive. Die aktuelle Statistik des VSM belegt das eindrucksvoll. Der Auftragsbestand der Werften umfasste zum Ende des dritten Quartals 2013 einen Wert von insgesamt rund 7,9 Milliarden Euro. Für das Gesamtjahr fehlt zwar noch das für den Auftragseingang traditionell wichtige vierte Quartal.
Dennoch ist der Wert nur noch etwa halb so hoch wie der des Auftragsbestands von Ende 2007. Der Auftragseingang in den ersten neun Monaten 2013 lag bei 993 Millionen Euro, im gesamten Jahr 2012 waren es noch rund 3,2 Milliarden Euro. Die deutschen Werften zählten im September 2013 insgesamt 16.840 Beschäftigte, ein Jahr zuvor waren es noch 18.162 Mitarbeiter in den Stammbelegschaften.
Zumindest auf dem Papier sind die großen Trends negativ. Lüken allerdings zeichnet ein anderes Bild. „Wir vertreten als Verband für Schiffbau und Meerestechnik nicht nur die Werften, wir bilden die gesamte Wertschöpfungskette des deutschen Schiffbaus ab, bis hin zur akademischen Ausbildung und zur Finanzierung der Branche“, sagt er. „Die Werften sind im Schiffbau der zentrale Systemintegrator, aber bei Weitem nicht die einzigen Unternehmen, die in der maritimen Industrie Werte schaffen.“ Das ist wohl wahr. Zulieferer und Ausrüster in ganz Deutschland stellen Produkte für die internationale maritime Wirtschaft her, vom weltweit führenden Anbieter großer Schiffsmotoren – MAN Diesel & Turbo in Augsburg – bis hin zu Würth Industrie in Bad Mergentheim, einem führenden Hersteller von Befestigungsmaterialien, besser bekannt als „Schrauben Würth“. Rechnet man sie hinzu, kommt man für die maritime Industrie auf 80.000 bis 100.000 Beschäftigte, je nach Abgrenzung in den Unternehmen, und auf eine deutlich höhere Wertschöpfung als allein jener der deutschen Werften. Denn Ausrüstungs- und Zulieferunternehmen wie etwa auch die mittelständischen Unternehmen Hatlapa in Uetersen oder Becker Marine Systems in Hamburg machen ihre Geschäfte direkt mit Reedereien und Werften weltweit.
Für die Küste aber bleiben die Werften entscheidend. Sie binden letztlich den Schiffbau in Deutschland, sie sind Knotenpunkte im Netzwerk der maritimen Industrie. Vor allem eine Handvoll Topunternehmen zeigen, dass deutscher Schiffbau auch unter härtester internationaler Konkurrenz auf höchstem Niveau möglich bleibt: die Papenburger Meyer Werft mit Kreuzfahrtschiffen, die Bremer Lürssen-Gruppe vor allem mit Superyachten, FSG in Flensburg mit modernsten Fährsystemen, Nordic Yards in Wismar zunehmend mit hoch komplexen Strukturen für die Offshore-Windkraftbranche und mit Spezialschiffen für arktische Gewässer, Blohm+Voss in Hamburg mit Großyachten und HDW in Kiel mit Marineschiffen.
„Der entscheidende Vorteil des südkoreanischen Schiffbaus ist nicht dessen technologischer Vorsprung, sondern seine Größe“, sagt Lüken über die mit Abstand führende Schiffbaunation Südkorea. „Bei der maritimen Ingenieurskunst in Deutschland aber schlägt uns niemand. Diese Stärke und auch das Projektmanagement müssen wir erhalten. Vor allem geht es darum, die Ingenieurskraft im deutschen Schiffbau nicht verloren gehen zu lassen, dafür zu sorgen, dass die Ausbildungsplätze an den Hochschulen genutzt werden. Weltweit gibt es keine so intensive und umfassende Ausbildung für Schiffbauingenieure wie hierzulande.“
Deutsche Schiffbauingenieure sind begehrt, die meisten Absolventen dieser Jahrgänge haben lange vor dem Abschluss der Hochschule eine Zusage für einen Arbeitsplatz. Aber dennoch droht die Zahl der Werftunternehmen weiter zu schrumpfen: Deutschlands älteste Werft Sietas kam auch im Jahr 2013 nicht aus dem Insolvenzverfahren heraus. Bald nach der Jahreswende dürfte sich entscheiden, ob die letzte Option – eine Übernahme durch den chinesischen Stahlbaukonzern ZPMC – Realität wird. Oder ob in Neuenfelde dann nach 379 Jahren der Schiffbau zu Ende geht. Auch für die insolvente Volkswerft in Stralsund – nach der deutschen Einheit das größte Schiffbauunternehmen in Mecklenburg-Vorpommern – fand sich 2013 kein neuer Investor. Die meisten Insolvenzen der vergangenen Jahre sind Spätfolgen eines Strukturbruches. Noch bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrzehnts hinein waren die Orderbücher der deutschen Werften vor allem auch mit Containerschiffen prall gefüllt. Diese Zeit allerdings ist endgültig vorbei. Nun müssen sich die Werften stärker als zuvor mit Typen jenseits des Standardschiffbaus behaupten. Lüken glaubt, dass dieser Umschwung, nach einigen Insolvenzen und dem Verlust vieler Arbeitsplätze, gelungen ist: „Der große Umbruch in der deutschen Werftbranche weg vom Containerschiffbau ist beendet.“
Große Hoffnungen hegen Werften, nicht nur in Europa, wegen des künftigen Bedarfs der Energiewirtschaft auf dem Meer. Einerseits geht es dabei um die wachsende Offshore-Öl- und Erdgasindustrie, die weltweit tätig ist.
Zum anderen entsteht vor allem in der Nordseeregion in den vergangenen Jahren ein völlig neuer Markt beim Aufbau von Offshore-Windparks. „Die Meerestechnik ist weltweit ein absoluter Wachstumsmarkt“, sagt Lüken.
„Die Nutzung der Meere wird sehr stark zunehmen. Die Staaten werden dafür verstärkt ihre strategischen Interessen wahrnehmen. Für beides braucht man Schiffe und hochseetaugliche Strukturen.“ Der VSM-Manager hat dabei jedoch vor allem den maritimen Markt für Öl und Erdgas im Blick, nicht so sehr die Offshore-Windkraft: „Der weltweite Offshore-Markt für die Förderung von Öl und Erdgas ist weitaus größer als der Markt für die Offshore-Windkraft“, sagt er. „Wer heutzutage große Erdöl- oder Erdgasprojekte startet, der tut das im Zweifelsfall auf dem Meer – vor Westafrika oder Brasilien, vor Australien oder Indonesien. Und in Zukunft sehr intensiv auch in den arktischen Gewässern.“
Die Offshore-Windkraft, die auch in der deutschen Nordsee deutlich ausgebaut werden wird, hält Lüken in der öffentlichen Wahrnehmung für überbewertet. Zwar sei man froh über die Vereinbarungen des Koalitionsvertrages, die der Windkraftindustrie ein realistisches Ausbauziel bis zum Jahr 2020 gäben. „Es darf aber nicht der Eindruck entstehen, dass der Offshore-Windkraftmarkt der einzige Hoffnungsträger für den deutschen Schiffbau sei. Das Orderbuch der deutschen Werften im zivilen Schiffbau besteht heutzutage zu gut 80 Prozent aus Passagierschiffen – Kreuzfahrtschiffen, Fähren, Yachten, Behördenfahrzeugen.“
Entscheidend ist aus Lükens Sicht, dass die neue Bundesregierung den Schiffbau gezielt und mit einer längerfristigen Perspektive unterstützt: „Wenn wir in Deutschland von den großen Trends der maritimen Industrie profitieren wollen, etwa der stark wachsenden Erdgasförderung auf See, muss die Bundesregierung dafür klare industriepolitische Akzente setzen“, sagt er mit Blick unter anderem auf Kreditprogramme der staatlichen KfW-Bank. „Aber Industriepolitik betreiben wir in Deutschland kaum noch oder gar nicht mehr.“