Birgit Nabert, Verband Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien Schleswig-Holstein, über Jugendhilfe

Hamburger Abendblatt:

Frau Nabert, in Hamburg ist ein kleines Mädchen von seiner Pflegemutter den leiblichen Eltern zurückgegeben worden und dort zu Tode gekommen. Täuscht der Eindruck, dass Jugendämter und Justiz in Deutschland sehr intensiv versuchen, Kinder, die bei Pflegeeltern aufwachsen, wieder zu den leiblichen Eltern zurückzuführen?

Birgit Nabert:

Das stimmt leider, weil im Gesetz ausschließlich das Elternrecht im Vordergrund steht. Das Recht des Kindes findet eher weniger Berücksichtigung. Es gibt in Deutschland kein standardisiertes Verfahren zur Zeit- und Zielperspektive der Kinder.

Warum ist das so?

Nabert:

Weil die Hilfeempfänger immer die Eltern sind, schaut keiner auf das Kind. Die Gesetzgebung muss dahingehend geändert werden, dass die Kinder die Hilfeempfänger sind. Und dass Kinder zum Beispiel einen Rechtsanspruch auf Kontinuität in der Erziehung haben. Solange das nicht der Fall ist, können Jugendämter in Deutschland sagen: Wir schauen uns die Entwicklung jetzt mal an, und dann entscheiden wir in zwei Jahren, wie es weitergeht.

Mit welchen Folgen für die Kinder?

Nabert:

Die Jugendämter produzieren mit diesem Vorgehen seelische Chaoten. Wenn ein Säugling, wie jetzt in Hamburg, direkt nach der Geburt zu seiner Pflegemutter kommt, ist er schon nach einem halben Jahr nicht mehr rückführbar. Nach einem halben Jahr, so ist das kindliche Zeitempfinden, wird er sagen: Das ist jetzt meine Mutter. Das heißt: Dieses kleine Mädchen hätte gar nicht zurückgeführt werden dürfen. Für Yara ist es so gewesen, als wenn man ihr die Mutter weggenommen hätte. Kinder, die ohne Kontinuitätssicherung aufwachsen, sind schwer traumatisiert und tragen Schäden in sich, die ein Leben lang bleiben.

Warum passiert das trotzdem?

Nabert:

Weil Jugendämter keine Fachaufsicht mehr haben. Die Zuständigkeit des Landesjugendamts in Hamburg wurde 1990 abgeschafft. Jeder Mitarbeiter kann quasi selbst entscheiden, ob er eine Rückführung für angemessen hält. Jetzt muss geklärt werden, welche Informationen dem Gericht vom Jugendamt vorlagen. Gibt es ein Gutachten über die Eltern? Hat der Vater ein Anti-Aggressions-Training gemacht? Wenn es schon Gewalt gab, muss eine erweiterte Erziehungsfähigkeit nachgewiesen werden. Die Eltern müssen in der Lage sein, die Vorfälle zu reflektieren und mit dem Kind aufzuarbeiten.

Wie ist das in anderen Ländern?

Nabert:

In England findet im ersten halben Jahr nach der Herausnahme aus einer Familie eine intensive Elternarbeit mit dem Ziel der Rückführung statt. Dabei besteht oft ein täglicher Kontakt zu den leiblichen Eltern. Nach zwölf Monaten wird die abschließende Tendenz festgelegt, und nach 18 Monaten gibt es kein Zurück mehr.

Sind Ihnen aus Ihrer Arbeit in Schleswig-Holstein ähnliche Fälle bekannt?

Nabert:

Gerade gibt es in Kiel den Fall eines kleinen Mädchens, das in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist. Nun strebt das Jugendamt die Rückführung des schwer kranken Mädchens, das schon mehrfach auf die Intensivstation musste, zu den leiblichen Eltern an. Es besteht das Risiko, dass dieses Mädchen durch die Arbeitsweise des Jugendamts zu Tode kommt.