Antonia Sophie Gerlach recherchierte die Ereignisse am Rande der Auseinandersetzung um die Hamburger Hafenstraße in den 80er Jahren und gewinnt beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten.

Hamburg. Antonia ist mit ihrer Mutter gekommen. Das ist nicht überraschend für eine 13-Jährige, die sich mit einem Journalisten zum Interview trifft. Wir haben uns im Café Vesper in Eimsbüttel verabredet. Sonnabendnachmittag, die Atmosphäre ist entspannt. Kuchenduft liegt in der Luft, von den Nachbartischen ist Gemurmel zu hören.

Die 13-Jährige ist eigentlich so, wie man sich ein Mädchen in ihrem Alter vorstellt. Ein klein wenig schüchtern wirkt sie, anfangs redet sie leise. Die schwarze Brille auf ihrer Nase lässt sie etwas älter wirken, vor allem aber gebildet. Wenn sie antwortet, dauert es manchmal etwas länger. Sie sucht nach Worten, die, wenn sie sie gefunden hat, aus ihrem Mund nur so heraussprudeln.

Antonia Sophie Gerlach ist diesjährige Preisträgerin des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten „Vertraute Fremde. Nachbarn in der Geschichte.“ 1321 Arbeiten waren eingereicht worden - fünf davon wude mit einem ersten Preis ausgezeichnet. Heute wird Antonia im Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, von Joachim Gauck ihre Urkunde erhalten. Dabei werde sie ein Kleid tragen, erzählt sie und fügt lachend hinzu: „Mit einer Jeans geht das doch nicht.“

Die junge Frau besucht derzeit im Gymnasium Kaiser-Friedrich-Ufer die 8. Klasse und hat eine Arbeit über die Auseinandersetzungen um die Hafenstraße im Jahr 1987 geschrieben. Speziell ging es um die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen der Schule Friedrichstraße - die heutige Ganztagsschule St. Pauli - und den Hausbesetzern. Schließlich waren Tische und Bänke aus der Klassenräume von den Besetzern der Hafenstraße zum Bau von Barrikaden verwendet worden. In der Hochzeit der Auseinandersetzungen musste die Schule geschlossen werden und die Polizei plante kurzzeitig sogar, ihre Einsatzzentrale in den Räumen des Gebäudes einzurichten.

All das hat Antonia durch Recherchen herausgefunden, denn von den Ereignisse um die Hafenstraße wusste sie kaum etwas, bis ihre Mutter und eine ihrer Bekannten von den Auseinandersetzungen erzählten. „Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie das damals war“, sagt die 13-Jährige. „Wie das war, als über Nacht an beiden Seiten der Bernhard-Nocht-Straße Barrikaden gebaut wurden, Hubschrauber über dem Viertel kreisten und Tausende Polizisten aufmarschierten.“

Genauso wenig hätte sie sich vorstellen können, wie sich die Ereignisse auf die Schüler der angrenzenden Schule auswirkten. „Ich fragte mich, wie es Schülern, Eltern und Lehrern dabei erging, ob der Senat und die Hausbesetzer bei ihren Entscheidungen Rücksicht auf die Schule nahmen“, erzählt Antonia. Vor allem aber „wollte ich wissen, was die Schüler, die damals ja so alt waren wir ich heute, gefühlt haben“.

Um diesen Fragen in ihrer Arbeit auf den Grund gehen zu können, befragte die Schülerin acht Zeitzeugen, die in die Auseinandersetzungen um die Hafenstraße involviert waren. Der prominenteste unter ihnen dürfte Hamburgs damaliger Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi gewesen sein. „Es war beeindruckend, wie er mir vor allem die rechtlichen Dinge erklärte“, sagt Antonia.

Immer dann, wenn die 13-Jährige über die Begegnungen mit den Zeitzeugen erzählt, spürt der Gegenüber, wie sehr sie das Thema gepackt hat. „Die frühere stellvertretenden Schulleiterin Jutta Warlies erzählte, dass die Auseinandersetzungen die Schule und die Hausbesetzer näher brachte.“ Das Hausmeisterehepaar Meckel wiederum beschrieb, wie Hausbesetzer nächtens Tische und Schulbänke aus der Musikhalle und einem Klassenraum gestohlen und damit Barrikaden auf der Straße errichtet hatten.

Für Antonia eröffnete sich während der Recherche zu ihrem Beitrag ein neue Welt. „Es war sehr bewegend, wenn meine Gesprächspartner davon erzählten, wie die Polizei Passanten kontrollierte oder darüber berichteten, wie diszipliniert und sachlich die Hausbesetzer untereinander diskutierten.“ Es mag die geschichtliche Dimension sein, die es der 13-Jährigen angetan hat, auch wenn sie es so nicht formuliert. „Mich interessieren geschichtliche Dinge, die ich selbst nicht erlebt habe“, sagt sie und fügt hinzu: „Ich will aber im Unterricht nicht einfach ein Buch aufklappen, sondern mir selbstständig das Vergangene erarbeiten.“

Natürlich wisse sie heute noch nicht, ob sie später „etwas mit Geschichte“ studieren werde, erzählt sie. Aber als Journalistin zu arbeiten, das könne sie sich durchaus vorstellen. Schließlich habe sie bereits vor zwei Jahren - damals war sie elf Jahre alt - aus Anlass des 120-jährigen Jubiläums ihres Gymnasiums eine Arbeit geschrieben. Seinerzeit ging es um das Schicksal eines Mädchens, das mit seiner Familie aus Bosnien-Herzegowina nach Deutschland geflohen war, sich hier gut eingelebt hatte und wieder in sein Geburtsland abgeschoben werden sollte. „Mir machte es Spaß, diese Geschichte zu recherchieren und aufzuschreiben.“

Ein Lehrer sei anschließend auf sie zugekommen und habe sie gefragt, ob sie nicht an dem Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten teilnehmen wolle. Das war etwas Besonderes, schließlich ist das der größte historische Forschungswettbewerb für junge Menschen in Deutschland. 1973 hatten der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann und der Stifter Kurt A. Körber diese Idee umgesetzt. Seitdem nahmen mehr als 130.000 junge Menschen an den Wettbewerbsrunden teil.

Bei Antonia rannte der Pädagoge offene Türen ein. Schließlich hat ihre Mutter, eine studierte Ägyptologin, die heute als Museumspädagogin arbeitet, ihr frühzeitig die Geschichte nahe gebracht. Antonia interessiert sich vor allem für griechische Mythen und Sagen. Während ihre Mutter erzählt, lächelt Antonia und nickt hin und wieder mit dem Kopf. Es ist die kindlich-altkluge Art von Nachsicht mit den eigenen Eltern und scheinbarer Allwissenheit, die sie in solche Momenten sympathisch macht.

Das Interesse für Geschichte lässt die 13-Jährige nicht wieder los. Erst vor kurzem habe sie das Buch „Zwischen zwei Scheiben Glück“ von Irene Dische gelesen, erzählt sie. In der Erzählung geht es um den sechsjährige Peter, dessen Vater als ungarischer Diplomat in den 30er Jahren in Berlin arbeitet und später von den Nazis zum Tode verurteilt wird, weil er Juden Pässe vermittelt hatte. „Das war bestimmt eine bedrückende Zeit“, sagt Antonia.