Das Thema Flüchtlinge ist in aller Munde. Was bedeutet es aber wirklich, ein Flüchtling zu sein? Das Abendblatt hat mit Mostafa Moradi gesprochen. Der heute 19-jährige Afghane floh mit 15 Jahren allein aus dem Iran nach Hamburg.

Hamburg. Mostafa Moradi ist ein Flüchtling – und das schon sein Leben lang. In seiner Heimatstadt Kabul ist er nie gewesen. Er ist ein Ausländer –immer und überall. Schon vor seiner Geburt sind seine Eltern aus dem Bürgerkriegsland Afghanistan in den Iran geflohen. Doch es sollte keine neue Heimat für den heute 19-Jährigen werden. Auch im Iran, abseits des Krieges, lebte er ein Leben in Angst.

„Als Afghane im Iran wird man sehr heftig gemobbt“, versucht Mostafa seine Situation zu erklären. Immer wieder hatte er Angst davor, geschlagen zu werden. „Sie haben mich immer gefragt, warum wir Afghanen im Iran leben. Mein Vater, der als Schumacher im Iran arbeitet, wurde an einer Bushaltestelle von mehreren Leuten verprügelt – einfach weil er Afghane ist.“ Die größte Sorge des damals noch jungen Mostafa waren aber nicht die körperlichen Übergriffe, nicht die täglichen Diskriminierungen. Am größten war die Angst, nach Afghanistan zurückgeschickt zu werden. „Ich hatte dort weder Verwandte noch Bekannte. Meine Familie lebte im Iran.“ Auf die Straße zu gehen, war im Iran wegen der Polizeikontrollen ein Risiko.

Mit elf Jahren fing Mostafa an, über eine Flucht nachzudenken. „Ich wollte um jeden Preis weg aus dem Iran, weil ich für mich dort einfach keine Zukunft gesehen habe“, erzählt er. Er sprach mit seinen Eltern darüber, doch die waren zunächst strikt dagegen. „Sie hatten Angst, mich gehen zu lassen.“ Doch die Situation wurde immer schlimmer. Als die Diskriminierung und die Angst weiter zunahmen, entschieden sie sich, ihrem Sohn zu helfen. „Mit 15 Jahren war ich dann bereit zu gehen“, erzählt Mostafa und klingt dabei so viel älter als er mit seinen 19 Jahren tatsächlich ist. Damals, als er diese Entscheidung traf, war er fast noch ein Kind, gerade mal ein Teenager. Trotzdem entschied er sich, seine Eltern, seine Familie zu verlassen.

Vorbereiten konnte er sich nicht. „Es ist nicht wie ein Ausflug, auf den man sich vorbereitet und schaut, dass man ein T-Shirt, eine Hose und ein wenig Proviant mitnimmt. Um ehrlich zu sein kann man sich nicht darauf vorbereiten. Mein Vater war mit Menschenschleusern in Kontakt. Der Deal war, sie erst zu bezahlen, wenn ich mein Ziel erreicht hatte.“ Wenigstens diese kleine Sicherheit wollte der Vater seinem Sohn mit auf den Weg geben.

Mit den Menschenschleusern war Mostafa Moradi monatelang unterwegs. Er war auf sie angewiesen. Aus Angst vor der Polizei konnte Mostafa nicht selbst auf die Straße gehen. Wenn er Hunger hatte, musste der Schleuser das Essen besorgen. „ Es ging von Stadt zu Stadt. Kleidung haben wir gekauft, wenn es nötig war und Essen, wenn wir es brauchten und Hunger hatten.“ Von der Türkei aus flohen sie mit 25 Personen in einem Schlauchboot nach Griechenland. „Alle wurden klitschnass, wir haben unglaublich gefroren. Aber so etwas passiert. Darauf muss man sich einstellen“, erzählt Mostafa. Es hätte auch anders ausgehen können, wie die aktuellen Bilder der ertrunkenen Flüchtlinge vor Lampedusa zeigen.

Und auch Mostafa ist einmal nur knapp mit dem Leben davon gekommen. „Es gab eine Situation auf dem Weg vom Iran in die Türkei. Dort mussten wir große Berge überqueren. Immer wieder bin ich ausgerutscht. Einmal hätte mich das fast das Leben gekostet“, erzählt er. Erst im Nachhinein sei ihm bewusst geworden, was er auf der Flucht alles erlebt hat.

Die Nächte waren besonders schlimm. „Was den Schlaf angeht, da muss man jemanden vertrauen, sonst kann man einfach nicht in Ruhe einschlafen“, versucht Mostafa zu erklären. Und es gab viele Situationen, in denen er nicht schlafen konnte. Weil er niemanden kannte, niemandem vertraute, Angst hatte, bestohlen zu werden. „In solchen Momenten habe ich an meine Eltern gedacht. Ich hatte Angst, dass mir etwas zustößt, weil ich wusste, dass meine Eltern sich große Sorgen machten. Sie konnten ja nie wissen, wo ich bin und mit wem und wie es mir geht. Ich habe mich oft sehr allein und hilflos gefühlt. Ich war weg von Zuhause. Ich musste immer jemanden haben, dem ich vertrauen konnte, sonst hätte mich die Einsamkeit umgebracht.“

Im März 2010 kommt Mostafa Moradi in Hamburg an. Nach acht Monaten auf der Flucht. Nach acht Monaten in den Händen von Menschenschleusern, nach acht Monaten in Angst, entdeckt zu werden. Als er ankam dachte er nur: „Ich habe es geschafft, ich bin endlich am Ziel“. Trotz der Erleichterung war es nicht leicht für ihn. „Nach acht Monaten Rastlosigkeit wird man müde“, beschreibt Mostafa seinen damaligen Zustand. „Ich wollte nichts mehr machen – außer hier mein Leben zu beginnen.“ Und dann sagt er einen Satz, der zu Tränen rührt: „ Ich weiß noch, wie gut ich mich gefühlt habe, als ich Hamburg erreichte. Es war für mich nicht so, als wäre es eine fremde Stadt. Für mich war es meine Zukunft.“

Diese Zukunft hat für Mostafa längst begonnen. Er hat sie in die eigene Hand genommen. Im Jugendheim für minderjährige Flüchtlinge bekam er Hilfe, wurde von einem Dolmetscher unterstützt. „Auch bei psychischen Problemen konnten wir uns an sie wenden“, erzählt Mostafa. Seit seiner Ankunft besucht er einen Deutschkurs. „Ganz am Anfang war es schon etwas komisch, weil ich etwas sagen wollte, aber einfach nicht konnte. Ich habe mich sechs Monate lang geschämt zu sprechen, habe mich einfach nicht getraut. Aber das hat sich gelegt.“

Mostafa ist bewusst, dass er sehr viel Glück gehabt hat. „Weil ich als Minderjähriger hierher geflüchtet bin, hat der Staat meine Vormundschaft übernommen und sich um mich gekümmert. Als Minderjähriger wird dir eine betreute Wohnung gestellt, du bist verpflichtet zur Schule zu gehen. Andere, die ich kenne, hatten weniger Glück und mussten in der Angst leben, jederzeit abgeschoben zu werden.“

Zwei Tage nach seiner Ankunft ging Mostafa zum Bezirksamt. Auch dabei half ihm ein Dolmetscher. „Ich habe den Mitarbeitern meine Situation erklärt und meine Personalien gegeben. Die wurden dann geprüft. Da ich noch minderjährig war, übernahm der Staat meine Vormundschaft. Sie gaben mir für drei Monate eine Genehmigung. Zur Ausländerbehörde musste ich auch. Die haben mich ebenfalls nach meiner Situation befragt. Anschließend habe ich ein Visum für drei Jahre bekommen.“

Dieses Visum läuft im kommenden Monat ab. Mostafa hofft aber, eine Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. „Jemand, der zur Schule geht, eine Ausbildung macht und keine Anzeigen hat, hat gute Chancen“, sagt er.

Und genau das hat Mostafa Moradi gemacht. Drei Jahre nach seiner Ankunft hat er in diesem Jahr an der Gewerbeschule Hamm (G 8) seinen Realschulabschluss gemacht. Jetzt hat er sich an der Gewerbeschule Farmsen (G 16) beworben, als Assistent für Informatik. „Wenn ich angenommen werde, möchte ich mein Fachabitur machen. Nach meinem Fachabitur könnte ich es mir auch vorstellen zu studieren“, sagt er. Nicht die einzige Möglichkeit: „Ich habe auch schon zwei Praktika beim NDR als Kameramann gemacht. Eine Ausbildung als Kameramann wäre natürlich auch richtig toll.“

Sein Leben im Iran scheint weit weg. Trotzdem vergisst er seine Familie dort nicht. „Zurzeit arbeite ich als Kellner in einem afghanischen Restaurant in der Innenstadt und versuche meine Familie im Iran soweit es geht finanziell zu unterstützen“, sagt Mostafa. Und dann wird plötzlich deutlich, wie schwer es für den 19-Jährigen sein muss, ganz alleine in Hamburg zu sein. „Ich möchte später eine gute Arbeit finden. Und selbst wenn ich 4000 Euro im Monat verdienen würde, würde ich nichts davon für irgendwelchen Luxus verschwenden. Alles, was ich mir versuche aufzubauen, tue ich für meine Familie.“ Und auch, wenn er von Hamburg sagt: „Hier geht es mir gut“ – am liebsten würde er seine Familie irgendwann zu sich holen. Wohl erst dann ist sein neues Zuhause auch eine neue Heimat.