Vor 30 Jahren, im Oktober 1983, erlebte Hamburg die bisher größte Demonstration – für Frieden und wider die Politik des damaligen Kanzlers Helmut Schmidts. Der wurde kurz darauf zum Ehrenbürger.

Das „Hamburger Forum“ rief, und mehr als 400.000 Demonstranten kamen am 22. Oktober 1983 zur größten politischen Kundgebung, die Hamburg bis dahin erlebt hatte. Der Rathausmarkt und die angrenzenden Straßen fassten die Menschenmassen bei Weitem nicht. Bürgerschaftspräsident Peter Schulz (SPD), der auf der Einhaltung der Bannmeile rings um das Rathaus bestehen wollte, hatte keine Chance sich durchzusetzen. Dieser Tag war nicht nur ein Beweis für die organisatorische Stärke der Friedensbewegung in der alten Bundesrepublik, quer durch die ganze Gesellschaft. Im „Hamburger Forum“ hatten sich Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Friedensinitiativen zusammengefunden, wie in anderen Städten auch. Vor allem wurde an diesem Herbsttag die elementare Besorgnis großer Teile der Bevölkerung vor einer Eskalation des Schreckens durch die Stationierung amerikanischer PershingII-Mittelstreckenraketen in Westdeutschland deutlich.

In der Bundeshauptstadt Bonn versammelten sich an diesem Tag mehr als eine halbe Million Menschen und applaudierten begeistert Willy Brandt (SPD), der ihnen zurief: „Mächtige Leute haben sich in den Kopf gesetzt, das Aufstellen von Pershing II sei wichtiger als das Wegbringen von SS-20 ... Dazu können wir nicht Ja, dazu müssen wir Nein sagen!“ Im Südwesten, zwischen Stuttgart und Neu-Ulm, reichten sich kurz nach 12 Uhr mittags rund 250.000 Menschen gleichzeitig die Hände und bildeten eine Kette, gigantische fast 110 Kilometer lang. In vielen Städten, auch im europäischen Ausland, trieb die Angst die Menschen auf Straßen und Plätze.

Aber Angst wovor konkret – drohte wirklich ein Atomkrieg? Die Sowjetunion hatte seit Mitte der 70er-Jahre auf dem Territorium des Warschauer Pakts mit der Stationierung von Mittelstrecken-Atomraketen des Typs SS-20 begonnen.

Nato-Doppelbeschluss kam auf Drängen Schmidts zustande

In den Hauptstädten Westeuropas hatte das die Sorge ausgelöst, der Kreml werde mit diesen Waffen in der Lage sein, den ganzen westlichen Teil des Kontinents mit einem atomaren Erstschlag zu bedrohen, ohne zwangsläufig mit einer Antwort durch amerikanische Interkontinentalraketen rechnen zu müssen. Denn wer konnte garantieren, dass die USA bei einem Angriff auf Westeuropa ihre Langstreckenraketen einsetzen und damit das Risiko eines sowjetischen Gegenschlags eingehen würden? Es war vor allem Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), den die Sorge umtrieb, Westeuropa könne so vom amerikanischen „Raketenschirm“ abgekoppelt werden. Dem unablässigen Drängen des deutschen Bundeskanzlers war es vornehmlich zuzuschreiben, dass der sogenannte Nato-Doppelbeschluss zustande kam, der dem Warschauer Pakt Verhandlungen über die Mittelstrecken-Raketen anbot, bei deren Scheitern aber eine Nachrüstung der Nato ankündigte.

Gegen diesen Kurs gingen nun Millionen Menschen auf die Straße. Helmut Schmidt wurde für viele Friedensaktivisten zur Hassfigur, und er musste wie auf dem Höhepunkt des RAF-Terrors um Leib und Leben fürchten. Aber sein Nachfolger im Kanzleramt, Helmut Kohl, hielt unbeirrt an dieser Politik fest, und am 22. November 1983 beschloss der Bundestag, genauer die Mehrheit aus CDU/CSU und FDP, mit 286 gegen 226 Stimmen auf Antrag der Regierung Kohl die Zustimmung zur Stationierung von amerikanischen PershingII-Raketen und Marschflugkörpern im Südwesten der Bundesrepublik. Es war eine schmerzliche Niederlage für die Friedensbewegung, die an diesem Tag lernen musste, dass sie Demonstrationsmacht mit politischer Macht verwechselt hatte. Das breite Bündnis zerbrach.

Die SPD versagte sich der Politik, die ihr eigener Kanzler auf den Weg gebracht hatte. In einem Nachrichtenmagazin las man damals eine sehr treffende Beschreibung der innerparteilichen Situation: „Das Schiff verlässt den Lotsen“. Kurz vor der historischen Abstimmung im Bundestag zeigte sich auf dem Kölner SPD-Bundesparteitag am 18. und 19. November 1983, wie isoliert Helmut Schmidt in seiner eigenen Partei war: Von den rund 400 Delegierten stimmten nur wenige, darunter Schmidt selbst und sein früherer Verteidigungsminister, der Hamburger Hans Apel, für die Raketen-Stationierung. Die Hamburger SPD marschierte in der vordersten Reihe der Schmidt-Gegner, unter denen das abschätzige Schlagwort von der „Schmidt-SPD“ als Synonym für eine rückwärts gewandte Partei entstand, die weder den Zeitgeist noch die Gebote einer „vernünftigen“, dem Volke dienenden Politik begriffen habe.

„Vertrag über atomare Mittelstreckensysteme“ wird 1987 unterzeichnet

Aber der Hamburger SPD-Führung, allen voran Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD), war klar, dass diese latente Konfliktsituation wenigstens äußerlich bereinigt werden musste. Da traf es sich gut, dass des Altbundeskanzlers 65. Geburtstag bevorstand. Ein schöner, vor allem auch unverdächtiger Anlass für eine längst verdiente Ehrung, mit der man auch ohne Gesichtsverlust eine Aussöhnung mit diesem großen Sozialdemokraten zelebrieren konnte. Und so kam es am 22. Dezember 1983, einen Tag vor dem Geburtstag des Altkanzlers, zu einer bewegenden Sondersitzung der Bürgerschaft. Das Parlament stimmte dem Antrag des Senats zu, Helmut Schmidt für „seine staatsmännischen Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland und um das Gemeinwohl Hamburgs“ die Ehrenbürgerwürde der Freien und Hansestadt Hamburg zu verleihen.

Es dauerte noch vier Jahre, bis Helmut Schmidts Sicherheitspolitik eine glänzende Bestätigung und Rechtfertigung erfuhr: Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten in Washington US-Präsident Ronald Reagan und Kreml-Chef Michail Gorbatschow den bahnbrechenden „Vertrag über atomare Mittelstreckensysteme“, mit dem beide Seiten übereinkamen, die Mittelstreckenraketen in Europa zu beseitigen. Es war der Anfang vom Ende des Kalten Krieges und der sowjetischen Hegemonie in Osteuropa.

Die Geschichte hat die Staatsmänner Schmidt und Kohl bestätigt und die Friedensbewegung, die auf breiter Front angetreten war, vollständig widerlegt. Schmidt hat seine Widersacher damals „infantil“ genannt. Das war ein hartes Urteil. Aber es wird nachvollziehbar, wenn man sich die Herausforderung vor Augen hält, vor der seine und die nachfolgende Bundesregierung damals stand. Die Lehre war: Politische Probleme werden nur durch Politik gelöst.