Bei der Bundestagswahl im September 1953 verlor ein gewisser Helmut Schmidt, 35, zwar sein Direktmandat. Doch Beobachter ahnten schon damals, dass dem schneidigen Redner eine große Karriere bevorstand.
Als am Abend des 6. September 1953 in Hamburg die Stimmen für die Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag ausgezählt waren, stand fest: Das Direktmandat im Wahlkreis 18 im Bezirk Nord hatte nicht der SPD-Kandidat, der 34-jährige Diplomvolkswirt Helmut Schmidt, sondern der Freidemokrat Dr. Hermann Schäfer gewonnen.
Die CDU hatte zugunsten der Elbliberalen auf einen eigenen Kandidaten verzichtet. Diese Absprache war eine Art Generalprobe für den Hamburg-Block, zu dem sich die bürgerlichen Parteien für die bevorstehende Bürgerschaftswahl des 1. November 1953 zusammengeschlossen hatten, um im Rathaus die regierende SPD auf die Oppositionsbänke zu schicken.
Vor diesem Hintergrund hatte Helmut Schmidt, Leiter des Amtes für Verkehr in der Wirtschaftsbehörde, schlechte Karten. Seinen Chef kannte und schätzte man, den Wirtschaftssenator Professor Karl Schiller (SPD).
1953: Neuling Schmidt chancenlos unterlegen
Aber von diesem jungen Mann hatten die Wähler in Hoheluft und Eppendorf, in Groß Borstel und Alsterdorf, in Fuhlsbüttel und Langenhorn noch nicht viel gehört.
Bekannt war er in der SPD und im Gewerkschaftslager. Hin und wieder schrieb er im SPD-Organ „Hamburger Echo“, aber für die breite Öffentlichkeit war er noch kein Begriff.
Dessen war er sich auch bewusst, und so hatte er dankbar das Angebot des befreundeten Filmproduzenten Gyula Trebitsch (Real-Film) angenommen, seinen persönlichen Wahlkampf mit einem Kurzfilm zu unterstützen, den er kostenlos für ihn produzieren wollte, um ihn in seinem Wahlkreis bekannt zu machen. So geschah es.
Wahlkampf mit VW-Bus und Video
Ein wichtiges Requisit im Wahlkreis 18 war ein alter VW-Bus, mit dem eine große Leinwand und der Projektor dorthin transportiert wurden, wo viel Publikum war, vornehmlich waren das die U- und S-Bahnhöfe.
Zur Aufführung gebracht wurde das Filmchen, in dem auch Schmidts Ehefrau Loki und Töchterchen Susanne einen kurzen Auftritt hatten.
Wahlwerbung auf einer Filmleinwand – das war ein Novum und stieß in den Parteien, in der SPD vor allem, auf herabgezogene Mundwinkel, denn es war doch die „Kraft der Argumente“, die zählen sollte, nicht diese Form der Selbstdarstellung.
Aber der Kandidat Helmut Schmidt hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Er hatte während einer Amerikareise gesehen, welche Rolle das Fernsehen in den USA bereits in den Wahlkämpfen spielte.
Emotionale Wahlkampf-Appelle
Auch im Hinblick auf das gedruckte Wort ging er neue Wege. So verteilte er nicht etwa nur die obligaten Flugblätter, sondern er schrieb die Haushalte seines Wahlkreises an, garnierte diese Wählerbriefe mit einem Foto, auf dem er staatsmännisch in die Kamera blickte, und ließ seine Wähler wissen:
„Die seit 1949 eingetretene zerstörerische Konkurrenz zwischen Eisenbahn, Binnenschifffahrt und Straßenverkehr bedarf dringend der Ordnung … Gerade für Hamburg mit seinem von den alten Hinterlandverbindungen abgeschnittenen Hafen sind diese Aufgaben von lebenswichtiger Bedeutung.“
Natürlich war das alles richtig. Nur einen Wahlkampf konnte man damit nicht gewinnen. Zum Schluss enthielt der Brief eine kleine Handreichung: „Lassen Sie sich bei der Wahl weder von dahergeredeten Schlagworten noch von politischen Vorurteilen beeinflussen. Ihr eigenes Urteil muss entscheiden und, nicht zuletzt, Ihr eigenes Herz.“
Diesen emotional angehauchten Appell beantworteten die bürgerlichen Wähler im Wahlkreis 18 dahingehend, dass sie den Dr. Hermann Schäfer mit 54,9 Prozent nach Bonn schickten.
Wählern fehlte das Vertrauen in den Neuling
Helmut Schmidt hatte keine Chance. Verwunderlich war das nicht. Schäfer war einer der Verfassungsväter, hatte das Grundgesetz mit unterzeichnet – für die bürgerlichen Wähler eine Vertrauen erweckende Persönlichkeit.
Schmidt hingegen konnte man nicht recht einordnen. Wer ihn in seinen Versammlungen erlebte, war beeindruckt von der kalt glänzenden Logik seiner Argumente, von seiner scharfzüngigen Rednergabe, die häufig als „schneidig“ wahrgenommen wurde. Aber das ließ nicht unbedingt Vertrauen entstehen, eher die Erwartung: „Aus dem wird noch was“.
Hinzu kam: Die SPD war 1953 im Kern immer noch eine Klassenkampfpartei, die mit dem Spitzenkandidaten Erich Ollenhauer in den Wahlkampf gegangen war – einem redlichen und honorigen Genossen, dem indessen jedes Charisma abging.
Gewiss hatte sie in ihren Reihen Wirtschaftspolitiker wie Karl Schiller und Heinrich Deist, die sich bemühten, ihre Partei wirtschaftspolitisch zu modernisieren. Aber bis zum Godesberger Programm von 1959, mit dem die SPD sich von den marxistischen Ladenhütern trennte und sich für die Wähler der Mitte öffnete, war es eben noch ein weiter Weg.
Schlechte Aussichten für die SPD
Unterdessen begann das deutsche „Wirtschaftswunder“, das mit einem legendären Namen daherkam: Ludwig Erhard (CDU), Bundeswirtschaftsminister.
Das war das eine große Handicap, mit dem die SPD in diesem zweiten Bundestagswahlkampf fertig werden musste. Das andere war der Ost-West-Konflikt. Der Volksaufstand des 17. Juni in der „Sowjetzone“, wie die DDR damals genannt wurde, lag erst wenige Wochen zurück.
Die Brutalität, mit der der Kreml die Erhebung durch die sowjetischen Besatzungstruppen niederschlagen ließ, war in der Wählerschaft noch sehr gegenwärtig. Mit dieser Sowjetunion, so verlangte die SPD, sollte die Bundesrepublik über die deutsche Einheit verhandeln.
Das war schwer vermittelbar. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), die Unionsparteien und die gesamte seit 1949 regierende Koalition trieben die Integration der jungen Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem voran.
Konkret war das 1953 die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die 1954 vom französischen Parlament zu Fall gebracht wurde. Die SPD lehnte den EVG-Vertrag ab.
Linie der CDU traf Nerv der Zeit
Die Bundesrepublik war nach ihrer Ansicht nicht gleichberechtigt genug, und eine Ratifizierung durch den Bundestag werde erfolgreiche Verhandlungen mit der Sowjetunion aussichtslos machen.
Mit einem gezielten Appell an die Angstreflexe in der Wählerschaft bestritten die Unionsparteien diesen Wahlkampf. Die von der SPD geforderten neuen Wege in der Politik führten hingegen ins Unheil – in der Außen- und in der Wirtschaftspolitik.
Der christdemokratische Wahlslogan „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau. Darum CDU“ brachte beides auf einen raffinierten Nenner. Das Ergebnis war ein grandioser Wahlsieg der Unionsparteien, die mit 14,2 Prozent zweistellig zulegten und mit insgesamt 45,2 Prozent der Zweitstimmen die absolute Mehrheit im Bundestag nur um ein Mandat verfehlten.
Die SPD kam weit abgeschlagen auf 28,8 Prozent. In ihrer Hochburg Hamburg mussten die Sozialdemokraten mit 38,1 Prozent leicht Federn lassen. Sie schickten, wie die CDU, sieben Abgeordnete nach Bonn.
Ein Genosse gewann das Direktmandat in seinem Wahlkreis: Herbert Wehner. Die anderen sechs wurden über die SPD-Landesliste gewählt. Unter ihnen auf Platz sechs Helmut Schmidt, den die Partei so zusätzlich absichern wollte. Viel hätte nicht gefehlt, und auch das wäre fehlgeschlagen. So beiläufig begann vor 60 Jahren eine politische Weltkarriere.