Für Menschen mit Behinderungen ist eine Teilnahme an Wahlen nur mit Einschränkungen möglich. Das liegt nicht nur an den wenig lesefreundlichen Parteiprogrammen für Blinde. Sondern auch an der Infrastruktur.
Hamburg. Die Stimme aus den Lautsprechern spricht stumpf und monoton wie ein Navigationsgerät, dafür aber rasend schnell. „La-den-Sie-jetzt-die-Merk-el-App“, dringt es im Bruchteil einer Sekunde an Carsten Albrechts Ohren und sofort danach „Ge-mein-sam-er-folg-reich-für-Deutsch-land“. Es sind die Überschriften auf der Homepage der CDU, die sich Albrecht von einem sogenannten Screenreader an seinem Computer vorlesen lässt. Denn der 51-jährige Niendorfer ist blind und auf die Software angewiesen, wenn er im Internet surfen will.
Das Problem nur wenige Wochen vor der Bundestagswahl am 22. September: Die Webseiten der meisten Parteien sind für blinde und sehbehinderte Menschen so gut wie gar nicht lesefreundlich. Bei der CDU finden sich allein auf der Startseite 127 Verlinkungen und 40 Überschriften, die das Programm identifiziert, bei der SPD sind es sogar 230 Links und 34 Überschriften. „Das ist viel zu viel“, sagt Albrecht. Denn während sehende Menschen die vielen Informationen ohne große Mühe blitzschnell aufnehmen und verarbeiten können, ist das für alle diejenigen eine Herausforderung, die sich nur auf ihr Gehör verlassen müssen. Das gilt selbst für Albrecht, der als gelernter Computerfachmann viel Erfahrung mit dem Screenreader hat. Wenn er sich mit Hilfe seiner Tastatur die einzelnen Überschriften, Links und Texte vorlesen lässt, muss er konzentriert lauschen. „Für Einsteiger und alle, die keine Internetfreaks sind, ist das Angebot der meisten Parteien furchtbar“, sagt er. „Da steigt man doch sofort aus.“
Er spricht aus Erfahrung: Albrecht sitzt im Vorstand des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg und schult andere im Umgang mit Hilfsmitteln wie dem Screenreader oder einer Braille-Zeile, die an die Tastatur angeschlossen wird und die Schrift auf dem Monitor in die Braille-Punktschrift zum Fühlen übersetzt.
Im Vergleich zu früheren Wahlen hat sich viel getan
Die Webseiten der Oppositionsparteien Grüne, Linke und SPD sind für Albrecht einfacher zu verstehen und zu lesen, als die von CDU und FDP. „Ich habe den Eindruck, dass die Notwendigkeit, auch Menschen mit Handicap über die eigene Politik zu informieren, noch nicht so bei den Regierungsparteien angekommen ist“, sagt er. Das deckt sich zum Teil mit den Ergebnissen, die man erhält, wenn man die Wahlprogramme nach den Worten „Behinderung“ oder „behindert“ durchforstet: 44 Mal tauchen sie bei den Grünen auf, 26 Mal bei den Linken, allerdings auch nur 17 Mal bei der SPD. Das Programm der CDU weist 22 Fundstellen auf, das der FDP zwölf.
Dabei hat sich im Vergleich zu früheren Wahlen schon viel getan. Das CDU-Wahlprogramm wird auf der Seite der Partei für Gehörlose sogar in Gebärdensprache vorgetragen, alle Parteien bieten ihre Ziele auch „in leichter Sprache“ zum Lesen oder Anhören an, in der sehr einfache Worte und kurze Sätze verwendet werden. „Das ist zum Beispiel für Menschen mit einer Lernschwäche sehr wichtig“, erklärt Johannes Köhn, Geschäftsführer der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen. „Eine Partei muss auch in klaren, knappen Worten vermitteln können, was sie eigentlich will.“ Um das alles aber auch im Internet zu finden, muss man sich zunächst dort zurechtfinden - und ist wieder bei Carsten Albrechts Problem der völlig unübersichtlichen Webseiten angelangt. Unsicheren empfiehlt Albrecht deshalb sich die Wahlprogramme der Parteien als Hör-CD zu bestellen, die etwa die evangelische Kirche für Blinde und Sehbehinderte in Düsseldorf kostenlos zur Verfügung stellt.
Doch nicht nur die Information über die politische Ziele, sondern auch die Wahl selbst kann für Menschen mit Handicap mitunter frustrierend werden. „Für Rollstuhlfahrer fängt es schon damit an, dass sie ihr Wahllokal nur über Busse oder eine U-Bahnstation mit Fahrstuhl erreichen können“, so Köhn. „Wenn dann noch Stufen im Weg sind, wird es noch schwieriger.“ 1276 Wahllokale wird es in Hamburg am 22. September geben, an dem nicht nur über den neuen Bundestag, sondern auch über den Rückkauf der Energienetze abgestimmt wird. Die meisten der Wahllokale sin in Schulen untergebracht. Das Landeswahlamt hat ihre Barrierefreiheit in drei Kategorien einsortiert: barrierefrei, eingeschränkt barrierefrei, nicht barrierefrei. Mit einer erstaunlichen Aufteilung.
Vor 2002 war eine geheime Wahl für Blinde nicht möglich
Nur 177 Einrichtungen sind für Menschen mit Behinderungen ohne Probleme zugänglich - das entspricht einer Quote von 13,8 Prozent. 801 Wahllokale (62,7 Prozent) sind eingeschränkt barrierefrei, was bedeutet, dass sie etwa für Menschen mit Gehbehinderungen zwar erreichbar sind, wo aber Hindernissen wie einzelnen Stufen oder nur mit der Hand zu öffnende Türen warten. Rollstuhlfahrer könnten dies nicht ohne fremde Hilfe bewältigen. Auch Senioren mit einem Rollator könnten Probleme bekommen. 298 Wahllokale und damit fast jedes vierte sind gar nicht barrierefrei. „Das ist viel zu viel“, beschwert sich Köhn. „Seit fünf Jahren gilt in Deutschland die UN-Behindertenkonvention. Spätestens bei der nächsten Bundestagswahl darf es eine solche Quote nicht mehr bei uns geben.“
Wer sein Wahllokal nicht erreichen kann, muss sich derzeit noch seine Briefwahlunterlagen bestellen. Den ausgefüllten Wahlschein kann er dann entweder abschicken, oder am Wahlsonntag auf ein anderes Wahllokal in seinem Wahlkreis ausweichen. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Damit sich blinde Menschen wie Carsten Albrecht auf dem Wahlzettel zurechtfinden, stellt der Hamburger Blinden- und Sehbehindertenverein eine Wahlschablone in Braille-Schrift zur Verfügung – sowohl für die Bundestagswahl als auch für den Volksentscheid.
In Deutschland gibt es die Schablonen erst seit der Wahl im Jahr 2002. Und vorher? War eine geheime Wahl, wie sie im Grundgesetz garantiert ist, für blinde und sehbehinderte Menschen nicht möglich. Auch für Albrecht nicht: „Ich musste jemanden mit in die Wahlkabine nehmen, damit er mit beim Kreuz machen hilft.“