Der Altkanzler nimmt einen Freiheitspreis der Hanns Martin Schleyer-Stiftung entgegen. Er sagt, er fühle sich mitschuldig am Tod des Arbeitgeberpräsidenten.
Hamburg/Stuttgart Drei Dinge, sagt Helmut Schmidt heute, hätten ihn bis in die Grundfesten seiner Existenz erschüttert. Der Tod seiner Frau. Sein Besuch in Auschwitz viele Jahrzehnte davor. Und die „monatelange Kette von mörderischen Ereignissen, die mit Hanns Martin Schleyers Namen verbunden bleiben“.
Es war der 5. September 1977. Schmidt regierte seit gut drei Jahren als SPD-Bundeskanzler die Republik. Die erste Ölkrise war gemeistert, die Arbeitslosenquote lag bei 4,5 Prozent.
Um 17.28 Uhr stoppten Mitglieder der Roten Armee Fraktion, der RAF, in der Kölner Vincenz-Statz-Straße die Fahrzeuge von Hanns Martin Schleyer, dem damaligen Arbeitgeberpräsidenten, und seiner Begleiter. Mehr als 100 Schüsse aus Maschinenpistolen fielen, amerikanische Spezialmunition. 90 Sekunden lang dauerte der Schusswechsel. Die Terroristen erschossen Schleyers Fahrer und drei Polizeibeamte. Am Abend dieses Tages im Herbst 1977 lag Schleyer im Kofferraum eines Autos in einer Tiefgarage, betäubt, als „Gefangener der RAF“. Noch war er am Leben.
Er sei sich klar bewusst, dass er „trotz aller redlichen Bemühungen am Tode Hanns Martin Schleyers mitschuldig“ ist, sagt Schmidt heute. „Denn theoretisch hätten wir auf das Austauschangebot der RAF eingehen können.“ Diese Sätze sind ein Auszug aus der Rede, die der Altkanzler am Freitagabend in Stuttgart hielt. 94 Jahre ist Schmidt alt, der SPD-Politiker wurde geehrt für „hervorragende Verdienste um die Festigung und Förderung der Grundlagen eines freiheitlichen Gemeinwesens“. Er erhält den Preis der Hanns Martin Schleyer-Stiftung. Die Ehrung ist auch die Geschichte einer Versöhnung zwischen einem Kanzler und einer Familie.
44 Tage war Schleyer Geisel der Terroristen gewesen. Er war mächtig, aufgrund seiner NS-Vergangenheit als SS-Untersturmführer nicht unumstritten. Die RAF wollte mit der Entführung ihre Gründungsmitglieder aus dem Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim freipressen. In einem Apartment in einem Kölner Hochhaus waren die Geiselnehmer anfangs untergetaucht. Schleyer musste die meiste Zeit in einem mit Schaumgummi schallgedämpften Wandschrank ausharren.
Noch am Abend des 5. September 1977 hielt Schmidt eine Fernsehansprache. „Die Nachricht von dem Mordanschlag auf Hanns Martin Schleyer und die ihn begleitenden Beamten und Mitarbeiter hat mich tief getroffen.“ Und dann sagte er einen Satz, der später oft zitiert wurde: „Der Staat muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten.“ Es ging auch um die Frage, ob sich ein Staat von Terroristen erpressen lassen darf. Oder ob er das Leben seiner Bürger schützen muss, auch wenn er sich so den Terroristen beugt. Die Bundesrepublik hatte 1972 schon das Geiseldrama bei den Olympischen Spielen erlebt. Alle Geiseln starben. Als der CDU-Politiker Peter Lorenz 1975 entführt wurde, ging die Regierung auf Forderungen der „Bewegung 2. Juni“ ein. Lorenz kam frei.
Es war diese Zeit, in die 1977 auch die Entführung Schleyers fiel. Die Regierung wollte den Forderungen der Entführer nicht nachgeben. Doch Schleyers Sohn Hanns-Eberhard verhandelte selbst mit Unterhändlern der Terroristen, vor allem er kämpfte 1977 darum, dass die Bundesregierung den Forderungen der RAF nachkommt. Und damit vielleicht das Leben seines Vaters rettet. Hanns-Eberhard Schleyer war damals 32 und der älteste von vier Brüdern. Und er war Rechtsanwalt. Am 15. Oktober 1977 ging die Familie per Eilantrag vor das Bundesverfassungsgericht und forderte, dass die Regierung auf die Erpresser eingeht. Das Gericht lehnte den Antrag ab. Schmidt habe die Klage gut verstehen können, sagte er in der Rede in Stuttgart. „Wir, die Verantwortlichen in Bonn, konnten dagegen nicht abermals zulassen, dass freigepresste Verbrecher ihre mörderische Tätigkeit fortsetzen. So waren wir in Schuld und Versäumnis verstrickt.“
Zwei Tage vor der Klage der Familie hatten Terroristen die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt. 86 Menschen waren an Bord, sechs Tage dauerte das Geiseldrama. Wieder ging es auch darum, die RAF-Gründer freizupressen. Als Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim von der geglückten Befreiung der Geiseln in Mogadischu erfuhren, erschossen sie sich. Die Pistolen hatte offenbar ein Rechtsanwalt in den Sicherheitstrakt geschmuggelt. Das Ziel der RAF, die Freipressung ihrer Gründer, war gescheitert. Doch das bedeutete auch das Todesurteil für Hanns Martin Schleyer.
„Es rührt mich heute zutiefst“, sagt Schmidt in seiner Rede, „dass die Familie Schleyer öffentlich ihren Respekt gegenüber meiner damaligen Haltung zum Ausdruck bringt.“ Er verbeuge sich vor der Entscheidung der Familie. Schmidt habe Schleyer gut gekannt. „Ich habe ihn geschätzt, denn er war ein Mann, der sich um einen fairen sozialen Ausgleich bemüht hat.“ Schleyers Leben spiegele die deutsche Nachkriegsgeschichte. Heute gelte für Schmidt wie damals: egal ob Terror in New York, Moskau, Oslo, ob es um Kriege in Afghanistan gehe — überall sei „Gehorsam gegenüber dem Völkerrecht geboten“.
Auf der Beerdigung 1977 kondolierte Schmidt Witwe Waltrude Schleyer. Vor allem sie kam bis zu ihrem Tod 2008 nie darüber hinweg, dass die Regierung ihren Mann vielleicht hätte retten können. Für Sohn Hanns-Eberhard sind die Erinnerungen schmerzhaft. Aber er zeigt heute auch Verständnis für Schmidt. „Wir beide glaubten, das Richtige zu tun und die Demokratie gegen den Terror zu verteidigen“, sagt er der „Süddeutschen Zeitung“. Er selbst war es, der Altkanzler Schmidt im Herbst 2012 für den Preis der Stiftung seines Vaters vorgeschlagen hatte. Würde seine Mutter noch leben, wäre eine solche Entscheidung schwer gewesen. Vielleicht unmöglich, sagt er.