Der Schauspieler und Kampfkünstler Michel Ruge hat über seine Jugend auf dem Kiez das Buch “Bordsteinkönig“ geschrieben.

Sein Vater betrieb drei Bordelle. Die Prostituierten vom Kiez passten auf ihn auf. Michel Ruge, 44, ist auf St. Pauli aufgewachsen. Heute ist er Schauspieler und setzt seine Kampfsporterfahrung als Bodyguard ein. Ein Gespräch über eine wunderbare Kindheit auf dem Kiez und die heutige Entwicklung der Meile zum "Ballermann".

Herr Ruge, was ist ein Bordsteinkönig?
Michel Ruge: Im Fachjargon sind Bordsteinkönige die kleinen Buttjes, die auf der Reeperbahn oder in den Gassen von St. Pauli rumstromern.

Auf dem Titel Ihres Buches sind Sie als kleiner Junge abgebildet.
Michel Ruge: Da war ich ungefähr neun Jahre alt. Ich bin auf St. Pauli geboren und habe dort über 30 Jahre gelebt.

Wie berührend war es, sich bei den Recherchen mit der Kindheit und Jugend auf dem Kiez zu beschäftigen?
Michel Ruge: Die Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit hat mich sogar wahnsinnig berührt. Ich habe zur Arbeit an dem Buch alte Freunde wiedergetroffen, mir Fotos angeschaut. Dadurch bin ich einen unglaublichen Schritt weiter zu mir selbst gekommen. Ich habe das Buch aber nicht geschrieben, um mit mir irgendetwas ins Reine zu bringen. Aber es hat seine Wirkung hinterlassen.

Welche Wirkung genau?
Michel Ruge: Ich habe in dem Buch wirklich die "Hosen heruntergelassen". Ich habe erst einmal darauf los geschrieben und mich an immer mehr erinnert. Und je mehr ich ausgepackt habe, desto mehr sind Sachen hochgekommen, da habe ich mir schon überlegt, kann man das wirklich veröffentlichen? Was macht das mit mir? Was macht das mit meiner Zukunft? Aber ich habe mich entschieden, ungefiltert alles aufzuschreiben.

Allein schon die Überschriften der Kapitel sind harter Tobak für die meisten Menschen, die den rauen Umgangston auf dem Kiez nicht gewöhnt sind. Haben Sie sich eigentlich auch einmal gefragt, was ihr Buch mit dem Leser macht?
Michel Ruge: Es ging mir darum, das Leben auf St. Pauli so zu beleuchten und so darzustellen, dass jeder - egal aus welcher gesellschaftlichen Schicht er kommt oder wo er aufgewachsen ist - dieses manchmal auch unmoralische Leben nachvollziehen kann. Ich war es leid, zu hören "Ach, du bist auf St. Pauli groß geworden. Mann, das tut mir aber leid!" Tatsächlich hatte ich eine wunderbare Kindheit. Mir hat es an nichts gefehlt. Ich habe Abenteuer erlebt und wir durften auf Entdeckungsreisen gehen. Ich hoffe, dass die Leser St. Pauli genauso lieben werden, wie ich es liebe. Und dass sie vielleicht auch ihre Vorurteile und moralischen Ansätze mal weglassen können. Dass sie sich öffnen können für eine Welt, eine Parallelwelt, von der sie eigentlich nichts wissen wollen.

Aus den Lesern Ihres Buches machen Sie so aber auch Voyeure.
Michel Ruge: Ich glaube, das ist sogar die Stärke des Buches, dass ich den Leser so ganz nahe an mich ran lasse. Natürlich kann man peinlich berührt sein und sich wie ein Voyeur fühlen. Aber das war meine Zielsetzung: Ich wollte, dass die Leser erfahren, wie man sich in Situationen fühlt, die sie selber noch nicht erlebt haben und über die sie nie reden würden.

Wer Ihr Buch gelesen hat, der wagt sich angesichts der beschriebenen Brutalität nicht mehr auf den Kiez.
Michel Ruge: Ach, den Kiez heute und früher, wie ich ihn aus eigener Erfahrung beschreibe, kann man doch nicht mehr vergleichen. Ich schreibe über die Zeit in den 70er- und 80er-Jahren, und die ist ganz anders gewesen. Heute laufen auf dem Kiez doch die Soliden mit Kinderwagen rum.

Wen meinen Sie?
Michel Ruge: So heißen auf St. Pauli die Bürgerlichen. Früher war der Kiez für die eine Tabuzone. Dort hat sich nur das Rotlicht-Milieu getummelt. Für mich als Kind war das schön: Wir haben in den Hinterhöfen gespielt, auf den Spielplätzen und auf den Straßen. Heute sind keine Kinder mehr zu sehen, es sei denn, in Begleitung der Eltern. Es war ein anderes territoriales Verhalten früher. Und dann die vielen Betrunkenen heute. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir so viel gesoffen haben. Außerdem gibt es an jeder Ecke eine Schlägerei.

Das gab es damals nicht?
Michel Ruge: Klar gab es früher auch bei uns Schlägereien. Aber wir hatten viel mehr Respekt, und wir wussten, wenn man irgendwo auf dem Kiez eine Schlägerei mit jemanden anfängt, kann es die falsche Person sein. Ich habe das Gefühl, das gibt es nicht mehr. Irgendwie ist der Kiez zum Ballermann verkommen. Da kommen Heerscharen von betrunkenen jungen Leuten, die sich dort ausleben wollen, und das hat überhaupt nichts mehr mit Rotlicht zu tun. Auch nicht mit Sex in dem Sinne. Heute muss man dafür doch nur noch seinen Computer anmachen.

Also, irgendwie klingt das so, als ob Ihnen das St. Pauli von heute nicht mehr gefährlich genug sei.
Michel Ruge: Nein, mit gefährlich hat das überhaupt nichts zu tun. Ich empfand mein Leben auf St. Pauli damals auch nicht als gefährlich. Mümmelmannsberg oder Wilhelmsburg waren damals nach meinem Empfinden wesentlich gefährlicher. Ich habe mich immer sehr sicher gefühlt auf St. Pauli. Ich habe mir auch keine Gedanken gemacht über die Frauen, die da herumgelaufen sind. Es konnte ja nichts passieren, jeder hat auf jeden aufgepasst.

Was ist es dann?
Michel Ruge: Das Bedauerliche ist, dass St. Pauli als Ganzes austauschbar wurde. Dieses Besondere an diesem Viertel, die engen Gassen, die Bars, in die sonst keiner geht, und auch der Sex, der in der Luft lag, das ist alles weg. Alles, was St. Pauli authentisch machte, was die Menschen angezogen hat, verschwindet immer mehr und mehr. Irgendwann wird der Senat wahrscheinlich Prostituierte von überall herholen und die noch bezahlen, damit die dann wieder an der Ecke stehen, damit die Touristen etwas zu gucken haben. Irgendwann werden sie sich wundern, warum St. Pauli tot ist und keiner mehr kommen will.

Das Thema Gewalt - physisch wie psychisch - zieht sich durch Ihre Autobiografie. Haben Sie keine Sorge, dass jugendliche Leser in Ihnen ein falsch verstandenes Vorbild sehen?
Michel Ruge: Es ist wichtig für die Leute zu verstehen, was Gewalt mit einem macht. Ich habe nichts beschönigt, aber auch nichts abgemildert. Ich beschreibe, was Jugendliche tatsächlich erleben, wenn sie Gewalt ausüben.

Sie leben heute in Blankenese ...
Michel Ruge: Der Liebe wegen lebe ich mit meiner Frau dort. Sonst wäre ich nie dorthin gezogen. Aber wenn ich sehe, wie die Kinder in Blankenese aufwachsen und was denen aufgebürdet wird, dann muss ich sagen, das ist eine schwere Kindheit. Die können die 300 Meter nicht einmal zur Schule allein gehen, sondern werden mit dem Bus abgeholt oder von den Eltern zur Schule gefahren - im sichersten Viertel der Welt. Die gehen in Ganztagsschulen, haben keine Freizeit, dürfen nichts entdecken, nicht auf der Straße spielen, wirklich, da sage ich: Die haben eine schwere Kindheit.

Michel Ruge: Bordsteinkönig. Meine wilde Jugend auf St. Pauli. Knaur TB, ISBN-10: 3426785501, 288 Seiten. 9,99 Euro