Auf der Reeperbahn tags und nachts um halb eins: zwei Spaziergänge über den berühmtesten Kiez der Welt.
Freitag, 12.30 Uhr: An der U-Bahn-Station St. Pauli steigt eine Handvoll Leute aus. Eine Mutter mit Fahrrad und Kind, ein Skateboarder, der an ihnen vorbeidüst, und eine Gruppe Touristen aus - das mit leichtem Gurren gesprochene "Gleich sind wir da" lässt zumindest einen groben Rückschluss zu - Süddeutschland. Alle gemeinsam warten an der Ampel darauf, dass sie grün wird; an dieser letzten Schwelle, die zwischen ihnen und der Reeperbahn liegt. Links ragen die Tanzenden Türme, Adresse Reeperbahn 1, in den grauen Himmel und fangen die Blicke ein.
Zwölf Stunden später, um 0.30 Uhr, zeigt sich ein gänzlich anderes Bild: Aus der einfahrenden Bahn quillt ein Wust junger, alter, lauter, leiser, nüchterner, betrunkener Menschen. Wer sich nicht schnell genug bewegt, wird rigoros zur Seite gedrückt. Oben angekommen nimmt kaum jemand wahr, dass die Tanzenden Türme bei Nacht ein trostloseres Bild abgeben als tagsüber: In den Fenstern, aus denen noch Licht scheint, sieht man, dass sich hinter der spektakulären Fassade oft auch nur ganz normale Büros befinden, mit Standard-Drehstühlen, Kunstdrucken an der Wand und Neonbeleuchtung. Sein und Schein, Gegensätze gehörten schon immer zum Kiez. Dem Ort, der in tausenderlei Anekdoten, Liedern, Filmen auftaucht, an dem sich Tag-, Nacht- und Halbwelt zu einem Ganzen verzahnen, das die Reeperbahn zur berühmtesten Straße Hamburgs macht.
Aber für derlei Betrachtungen ist keine Zeit. Die rote Ampel wird genauso ignoriert wie der hupende Taxifahrer. "Der soll sich nich' so anstellen", nuschelt ein Blondschopf mit Leinenbeutel seiner Begleitung ins Ohr.
Jenseits der Kreuzung schleicht ein schwankender Rest der letzten Nacht mit wildem Blick und verkrustetem Blut unter der Nase vorbei. Die Schülergruppe, die ihm entgegenkommt, schaudert wohlig. Die Damen und Herren aus dem Süden der Republik haben die ohnehin um diese Zeit geschlossenen Attraktionen am Spielbudenplatz - das Operettenhaus, das Schmidt-Theater, Schmidts Tivoli und das St.-Pauli-Theater - links liegen gelassen. Stattdessen sind sie bei "World of Sex" angekommen, einem der Läden, die sich der Umsatzsteigerung durch Luststeigerung verschrieben haben. Man kichert. Wie oft der professionell desinteressierte Angestellte Dialoge wie "Guck mal, das wär doch was für dich ... höhöhö!" "Iii, du bist so eklig!" gehört hat, kann er wohl selbst nicht mehr zählen.
Manchmal gleichen sich die Bilder unabhängig von der Uhrzeit: Die Gruppe junger Männer, die nachts in der "Boutique Bizarre" steht, kommt zwar nicht aus Süddeutschland. Sondern aus Wingham Green im Süden Englands: Und für Brian und seine Freunde ist es schon ihr dritter Kieztrip. Aber der lautstarke Besuch eines Sex-Shops gehört trotzdem dazu. Ansonsten stromern die fünf "mates" über die Meile, auf der Suche nach "amusement, you know?".
Die Aussicht auf Amüsement, egal ob mit theatralischem Augenzwinkern oder ohne, ist auch Antrieb der Schlangesteher vor dem Club Hamburg, dem Neidklub, dem Baalsaal und dem Moondoo. Wo mittags noch Laster parkten, die Getränke anlieferten, wo geschäftige Handwerker an Kiezeinwohnern vorbeiliefen, die ihre Einkäufe die Straße hinunterschleppten, haben nun die Nachtschwärmer übernommen. Noch länger als vor den Klubs sind die Schlangen nur vor den Geldautomaten. Mittags sind die beiden in die Wand eingelassenen Bargeldquellen eine verwaiste Ecke, kaum einen zweiten Blick wert, wenn man nicht das Gegensatzbild der Nacht kennen würde. Über den ganzen Bürgerstieg windet sich die Warteschlange. Und wo Menschen sich Bargeld besorgen, sind auch die nicht weit, die auf den Gemeinsinn anderer bauen. Eine Gruppe Punks fragt nach Kleingeld, Pfandsammler versuchen, mit den Hinterlassenschaften der Flaneure ein Auskommen zu finden. Mittendrin sitzt einer, der wirkt wie aus einer anderen Welt: ein Harfenist. Seelenruhig und versonnen lehnt er an der Mauer und produziert sphärische Klänge. Das ist auch auf dem Kiez etwas Besonderes, schnell bildet sich eine Menschentraube um den Musiker. Er wird seine Miete zahlen können.
Miete ist das wohl geringste Problem der vier Obdachlosen, die vor dem Eingang zur S-Bahn stehen. Ein paar Meter entfernt vom ersten Koberer des Tages, der sich in weiser Voraussicht des langsamen Tagesgeschäfts einen Klappstuhl vor die Tabledance-Bar gestellt hat, lassen sie eine Flasche Sekt herumgehen. Was sie wohl zu feiern haben? Man traut sich nicht zu fragen.
Am unteren Ende der Reeperbahn, auf dem Beatlesplatz, ist auch noch nicht viel los. Ein einsamer Tourist lichtet die Silhouetten von John, Paul, George, Pete (oder doch Ringo?) und Stu ab. Vielleicht erinnert er sich, wie er sie vor einem halben Jahrhundert live gesehen hat, nur einige Meter weiter im Indra, dem Star-Club, dem Top Ten oder dem Kaiserkeller.
Nachts steht statt des nostalgischen Fotografen ein Mannschaftswagen der Polizei an selber Stelle: Die Uniformierten lauschen den Streitereien einiger Jugendlicher: "Is das normal, Alder? Is das normal?" Ja, ist es. Die verbale Kabbelei wird es nicht mal in die Akten schaffen. Da hätte der Teenie, der von seinem Kumpel mit einem "Bist du bescheuert?" wieder vom tiefergelegten, mattgrauen Sportwagen, auf den er sich gerade setzen wollte, weggerissen wird, schon bessere Chancen gehabt, zum Teil der Kriminalitätsstatistik zu werden. Eine der Regeln des Kiezes lautet, dass man teure, schnelle Autos maximal bewundernd anschaut. Wer sie als Sitzmöbel missbraucht, kann schnell Bekanntschaft mit dem Besitzer machen.
Nur zwölf Stunden liegen zwischen den beiden Spaziergängen - ein halber Tag und eine ganze Welt. Reich und arm, laut und leise, hell und dunkel: Auf den 930 Metern zwischen Millern- und Nobistor wechseln die Perspektiven im Takt eines Stroboskops. Und das macht den Reiz der Reeperbahn aus. Er speist sich nicht allein aus tausenderlei Varianten der Unterhaltung. Natürlich sind es die Bars, die Klubs, die Theater, die Rotlichtbetriebe, die Touristen und Einheimische anziehen. Doch der wahre Freizeitwert liegt darin, mit offenen Augen über die Reeperbahn zu laufen und die Menschen zu beobachten. Sie sind es, die aus einer beliebigen Straße in der Nähe des Hafens eine weltbekannte Attraktion machen.