ABENDBLATT: Herr Senator, 2001 haben CDU und Schill mit dem Thema innere Sicherheit die Wahl gewonnen. Heute ist die Gewaltkriminalität bei Jugendlichen höher als damals. Fälle wie der aus Niendorf häufen sich. Wie erklären Sie das den Wählern?

UDO NAGEL: Das, was in Niendorf passiert ist, ist abscheulich. Ich bin sprachlos angesichts der sinnlosen Gewalt. Und ich gebe zu: Obwohl die Zahl der Straftaten in Hamburg insgesamt um 80 000 gegenüber 2001 gesunken ist, haben wir ein Problem bei der Jugendgewalt - und zwar nicht nur in Hamburg, sondern deutschland- und europaweit. Ich bin der Erste gewesen, der schon 2006 darauf hingewiesen hat. Wir haben begonnen gegenzusteuern - mit dem Neun-Säulen-Konzept, in dem vier Behörden zusammenarbeiten.

ABENDBLATT: Aber warum tun Sie das erst jetzt? Jugendgewalt war mit dem Mord an dem Lebensmittelhändler Willi Dabelstein schon Ende der 90er ein großes Thema.

NAGEL: Bei bestimmten Themen muss man erst einmal Widerstände überwinden. Nehmen Sie mal den Ansatz, dass Schulschwänzer oder gewalttätige Schüler gemeldet werden. Dagegen haben sich Schulen und GEW lange gewehrt. Erst jetzt ist die Notwendigkeit allgemein anerkannt worden, dass auch die Schulen bei der Gewaltprävention mithelfen müssen.

ABENDBLATT: Dennoch ist das Bild, das der Senat bei diesem Thema abgibt, nicht gerade optimal.

NAGEL: Wieso?

ABENDBLATT: Statistiken der Justizbehörde sind falsch, die Zahl der Intensivgewalttäter wächst, das geschlossene Heim Feuerbergstraße ist ein Flop, die Gefängnisse stehen leer, es gibt spektakuläre Ausbrüche - und die Staatsanwaltschaft versteigert im Internet Messer, die die Polizei auf der Straße kassiert hat. Finden Sie das optimal?

NAGEL: Natürlich nicht. Aber ich sage noch mal: Ich bin kein Freund von Schnellschüssen. Neue Konzepte brauchen Zeit, bis sie greifen. Die Versteigerung von Messern ist ein Fehler gewesen. Es werden ja auch andere beschlagnahmte Dinge versteigert, etwa Autos. Bei Waffen sollte man das aber unterlassen. Trotzdem: Bei der Bekämpfung der Jugendgewalt ist Hamburg bundesweit ein Vorreiter. Ich bin doch derjenige, der in der Innenministerkonferenz immer wieder Änderungen anmahnt.

ABENDBLATT: Und welche sind das?

NAGEL: Wir wollen jungen Tätern als Sofortstrafe den Führerschein abnehmen können, weil sie das oft besonders trifft. Wir wollen die Statistik erweitern, damit wir mehr über die Täter erfahren, etwa ob sie aus Einwandererfamilien kommen, also einen Migrationshintergrund haben. Und wir wollen den Warnschussarrest, damit die Reaktion auf eine Tat auf dem Fuße folgt.

ABENDBLATT: Wenn der Senat das will, warum dauert es bis zu fünf Monate, bis solche Täter verurteilt sind?

NAGEL: Auch das ist sicher etwas, an dem wir arbeiten müssen.

ABENDBLATT: Was nützt es uns eigentlich, wenn eine Statistik uns zeigen würde, dass 80 Prozent der Täter in diesem Bereich aus Einwandererfamilien stammen - wie es sich etwa in Berlin in einer Sondererhebung gezeigt hat?

NAGEL: Zunächst muss man mal sagen, dass das Thema Jugendgewalt keinesfalls auf Migrantenkinder beschränkt ist. Jugendliche ohne Migrationshintergrund finden sich genauso oft unter den Tätern. Trotzdem ist es sinnvoll, wenn wir mehr über die Täter wissen. Denn nur so können wir auch vorbeugend etwas tun. In Berlin kam etwa heraus, dass arabischstämmige Jugendliche überproportional unter den Tätern zu finden waren. Wenn man das weiß, kann man sich an Verbände oder Vereine von in der Stadt lebenden Arabern wenden, um mit ihnen gemeinsam über Gegenmaßnahmen zu beraten. Wenn Sie aber kaum etwas über den klassischen Tätertypus wissen, können sie auch nicht vorbeugend aktiv werden.

ABENDBLATT: Wenn Berlin so eine Statistik machen kann, warum macht Hamburg das nicht auch?

NAGEL: In Hamburg haben wir ähnliche Daten erhoben - bei den Deutschrussen. Wenn wir aber auch Einwandererkinder mit deutschem Pass erfassen wollen, brauchen wir einen Beschluss der Innenministerkonferenz.

ABENDBLATT: Gibt es in Hamburg auch so viele arabische Täter?

NAGEL: Wir haben, wie gesagt, keine genauen Statistiken, aber ich würde eher davon ausgehen, dass in Hamburg türkisch- oder afghanischstämmige Täter eine größere Rolle spielen.

ABENDBLATT: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus den jüngsten Taten, wie der in Niendorf?

NAGEL: Niendorf ist ja kein Brennpunkt, deswegen werden wir da nicht eine Hundertschaft losschicken, als ginge es um den Kiez. Das Erste, was ansteht, ist die Aufklärung. Wir haben die Täter noch nicht und wissen noch nichts Genaues über den Tathergang. Wenn wir das wissen, können wir Konsequenzen ziehen. Wir haben jetzt Maßnahmen ergriffen, die langfristig wirken. Wir müssen viel früher ansetzten, schon in Kindergärten und Schulen. Wir haben dafür das ausgesprochen erfolgreiche Cop4U-Konzept, bei dem die Polizei an Schulen präventiv arbeitet. Gerade hat der Bundespräsident dieses Modell gelobt. Und, bei aller Sorge um die Jugendgewalt, will ich eines doch noch mal sagen: Hamburg ist heute viel sicherer als 2001. Es gibt insgesamt 80 000 Straftaten weniger als zur Zeit von Rot-Grün. Das heißt auch: 80 000 weniger Verbrechensopfer.

ABENDBLATT: Weniger Diebstähle, dafür mehr Gewalt in der U-Bahn, das steigert nicht unbedingt das Sicherheitsgefühl.

NAGEL: So ist es ja nicht. Im Übrigen gilt ein Grundsatz: Es wird immer Kriminalität geben, egal wie gut eine Regierung oder die Polizei arbeiten. Viele der Probleme, die wir haben, wurzeln doch in den Familien oder in fehlenden gesellschaftlichen Werten. Dagegen kommen Sie mit der Polizei alleine nicht an. Aber wir haben immerhin erreicht, dass jetzt alle an einem Strang ziehen. Früher standen sich Sozialarbeiter und Polizisten manchmal fast schon feindselig gegenüber. Heute arbeiten beide zusammen.

ABENDBLATT: So viel Differenziertheit hätte die SPD sich im Wahljahr 2001 wohl auch gewünscht.

NAGEL: 2001 war ich in München. Aber eines ist klar: Das Problem Jugendgewalt taugt nicht zum Wahlkampfthema. Dazu ist es einfach zu vielschichtig.

  • Interview: Jan-Eric Lindner, Jens Meyer-Wellmann