Serie: Erst verurteilt, dann Freispruch: spektakulärer Prozeß um Mord in Eppendorf. Die damals 47jährige hatte vier Jahre in Untersuchungshaft gesessen, bevor sie 1965 freigesprochen wurde.

Sie war schön. Sie war begehrt. Sie war geheimnisvoll. Eine schillernde Person mit undurchsichtigem Privatleben, Besitzerin mehrerer Pässe mit wohlklingenden Namen, angeblich die Geliebte von Reichen und Mächtigen. Eine, die den Stoff für Filme liefern könnte. Und tatsächlich eine, die Hamburger Justizgeschichte schrieb - als einzigartiger Fall, als tragischer Fall. Eva Maria Mariotti, angeklagt wegen Raubmordes, wurde dreimal der Prozeß gemacht, der einmal ergebnislos abgebrochen wurde, beim zweiten Mal mit einer Verurteilung zu lebenslangem Zuchthaus endete. Im dritten Anlauf, am 14. Juli 1965, schließlich der Freispruch. Ein Sieg für die Angeklagte? Ganz sicher. Aber kein glanzvoller Triumph. Denn da hatte die damals 47jährige rund 1300 Tage in Untersuchungshaft gesessen, war körperlich und nervlich schwer angeschlagen, von den Prozessen gezeichnet.

Der Mord an der wohlhabenden Zahnarztwitwe Maria Moser am 28. Juni 1946 am Loogestieg in Eppendorf: Schnell gerät ein Bekannter des Opfers in Verdacht, die Tat begangen zu haben, bei der der Zahnarztwitwe ein Pelzmantel und ein Morgenmantel geraubt werden. Ihren in ihr Korsett eingenähten kostbaren Schmuck findet der Täter nicht. Der gebürtige Tschechoslowake wird später in seiner Heimat wegen Mordes zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt. Und er wird zum Hauptbelastungszeugen gegen Eva Maria Mariotti, von der der Mann sagt, sie sei die Auftraggeberin und eigentliche Mörderin gewesen, die das Opfer, das er niedergeschlagen habe, schließlich erdrosselt habe. Interpol jagt die Verdächtige um den halben Erdball, nach 17 Jahren wird sie im Oktober 1960 im brasilianischen São Paulo gefaßt und an Deutschland ausgeliefert.

Hier beginnt in Hamburg 1963 der erste Prozeß gegen die zierliche Angeklagte. Am 11. Juli die Sensation. Dreimal wird Eva Maria Mariotti vom Untersuchungsgefängnis in den Schwurgerichtssaal geführt, zweimal vergebens. Um 20 Uhr - die Angeklagte zittert, ist dem Zusammenbruch nahe - die Entscheidung: Das Verfahren wird ausgesetzt, die Staatsanwaltschaft soll weiter ermitteln. Wie eine Bewußtlose wird die damals 45jährige aus dem Saal geschleppt, es beginnt eine neue Zeit des Wartens.

Und ein neuer Prozeß, der sechs Monate später beginnt. "Ich habe keinen Menschen getötet. Bitte glauben Sie mir. Ich bin unschuldig", fleht die Angeklagte, von einem Weinkrampf geschüttelt, die Richter an. Ihr Verteidiger Bernhard Servatius nennt seine Mandantin "eine einsame, gequälte, hilflose Figur auf der Bühne eines düsteren Dramas". Sie habe kein Motiv zu rauben und zu morden, betont der Anwalt. Der Hauptbelastungszeuge, der behauptete, sie sei die eigentliche Täterin, er habe ihr mit der Tat lediglich einen "Liebesdienst erwiesen", sei nicht glaubwürdig. Doch das Urteil lautet am 12. März 1964 auf lebenslange Haft wegen Mordes und besonders schweren Raubes. Eva Maria Mariotti bricht nach dem Urteil schluchzend zusammen. Doch die Gerichtsentscheidung wird vom Bundesgerichtshof aufgehoben, ein dritter Mariotti-Prozeß beginnt am 31. März 1965. Erstmals schweigt die Angeklagte konsequent - ein Verhalten, von dem der Staatsanwalt in seinem Plädoyer meint, es könne nur bedeuten, daß sie etwas zu verbergen habe. Daraufhin kommt es zu einem sensationellen Einschreiten des Generalstaatsanwalts. Dieser betont, mitten im Plädoyer des Anklägers, das Schweigen der Angeklagten sei verständlich. Es erscheine "einleuchtend, wenn sie die Tat nicht begangen hat". Ihr Verteidiger Servatius greift erneut die Aussage des Kronzeugen an, deckt Widersprüche in dessen Aussage auf. Am 14. Juli ergeht der Freispruch des Schwurgerichts, begleitet von Beifall und Bravorufen im Gerichtssaal. Eva Maria Mariotti kann nicht jubeln: Sie stammelt "Mama, Mama", bricht zusammen.

Fast vier Jahre lang hat sie in Untersuchungshaft verbracht, eine Zeit zwischen Hoffnung und Verzweiflung, eine Zeit enormer psychischer und körperlicher Strapazen, eine Zeit quälenden Wartens. Sie erhält eine Wiedergutmachungssumme von 200 000 Mark, geht nach Gran Canaria und eröffnet einen Kunstgewerbeladen. Als ihr Paß abläuft, vergißt sie, ihn zu verlängern. 1972 fällt sie von einer Leiter, wird von einem Arzt operiert, von dem sie nicht weiß, daß er alkoholkrank ist. Er verpfuscht ihr Hüftgelenk, sie muß an Krücken gehen, leidet ständig unter Schmerzen. Sie möchte zurück nach Deutschland, um sich erneut operieren zu lassen, doch die Behörden verweigern ihr die Einreise. Sie stirbt einsam und verarmt.

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