Schuld an der Unzufriedenheit ist das schöne Wetter bei der WM 2006. An den verregneten August, der folgte, kann sich heute kaum einer erinnern.

Hamburg. Anzeichen des Sommers gibt es in diesen Tagen überall in Hamburg, zum Beispiel in Eimsbüttel. Dort schwitzen vier Briten, brüten imposante Rötungen aus, liefern ihre gereizte Haut aber trotzdem munter der vom Himmel scheinenden Nachmittagssonne aus. Es sind Fußballfans, die vor dem Fernseher des Lokals „La Paz“ am Heußweg stehen und den englischen Nationalspieler Wayne Rooney besingen. „Ruuuunäh“, wie sie ihn nennen, trifft beim 1:0-Sieg seines Teams gegen Paraguay zwar kein Scheunentor, aber das ist an diesem Sonnabend egal. In Hamburg ist Sommer. Es ist der 10. Juni 2006.

Heute, im Sommer 2012, kann man davon nur träumen. Draußen dominiert grau statt blau. Sechs Jahre ist der WM-Sommer nun schon wieder her. Sechs Jahre! Vermutlich kann und will sich deshalb niemand mehr an den durchwachsenen August erinnern, der damals immerhin 170 Liter Regen auf Hamburg niedergehen ließ und dem aktuellen Durchschnittssommer ähnelte. Denn die paar Sommerwetterwochen während der WM und die unbeschwert aufspielende deutsche Elf langten, um nicht nur das Deutschlandbild der Briten nachhaltig zu prägen. Auch das Wetterempfinden der Hamburger veränderte sich. Der Sommer 2006, davon ist Alexander Hübener, Leiter des Instituts für Wetter- und Klimakommunikation, überzeugt, hat jedenfalls bei Einheimischen einen abwegigen Anspruch an den Sommer wachsen lassen. Aus wetterpsychologischer Sicht sei 2006 dafür verantwortlich, dass der aktuelle Sommer so hart kritisiert wird. „Hängen blieb ja nur das hervorragende Wetter während der WM.“ Die Leute dachten, es würde ewig so weitergehen. „Die Tourismuswirtschaft frohlockte schon, Sommer im Norden sei garantiert so schön wie Ferien in Südeuropa“, sagt Hübener.

+++ Meteorologe: "Der Juli kann noch richtig schön werden" +++

Und es war ja auch zu schön seinerzeit. Der heiße Juni und der mit 22,3 Grad noch heißere Juli. 755 Sonnenstunden! Toll! Grandios! Supertoll! Doch seitdem scheitern alle folgenden Sommer an der Erwartung, wieder ein Sommermärchen produzieren zu müssen. Dieser irrationale Anspruch intensiviert einerseits die Enttäuschung. Andererseits wird sie immer größer, je länger das gefühlte, nunmehr sechsjährige Sonnendarben dauert. Dabei dürfte bekannt sein, dass Hamburg und konstante Hochdruckgebiete eher losen Kontakt pflegen. Es ist das älteste Klischee der Stadt.

Und auch das langjährige Mittel zeigt: Der Hamburger Sommer ist ein besserer Freiburger Frühling. Im Durchschnitt hat er 16,3 Grad, 640 Sonnenstunden und 225 Liter Regen. Nicht grundlos gelten Hanseaten als reiselustiges Völkchen. Man könnte auch sagen, der Hamburger flüchtet gern. Neuerdings allerdings in Traumwelten.

Denn seit dem extrem trockenen Sommer 2003, dem kurz darauf folgenden WM-Sommer und der gleichzeitig entdeckten Lust an Außengastronomie scheint permanenter Sonnenschein ein im Hamburger Wetteralmanach verankertes Menschenrecht zu sein. Mehr südliche Tage für norddeutsche Metropolen! Mehr Italien für das Schulterblatt! Es gibt nicht wenige, die das unterschreiben würden. Die Realität indes hat niemand schöner formuliert als Die Partei: Hamburg, Stadt im Norden.

Vielleicht ist es deshalb heilsam, die nun anstehende Halbzeit des Sommers 2012 nüchtern zu betrachten. Der Juni war mit durchschnittlich 14,6 Grad, 148 Sonnenstunden und 77 Litern Regen so lustig wie ein Aprilscherz. „In der langjährigen Statistik tatsächlich ein unterdurchschnittlicher Juni“, sagt Alexander Hübener. Und im Juli sieht es nicht besser aus. Viel Westwind, viele Tiefs über dem Atlantik, viel mehr als Durchschnitt wird der Juli nicht werden. „Und die Warmluft beeinflussende Höhenströmung verläuft derzeit sehr weit südlich. Die Chancen einer Omega-Wetterlage, also eines konstanten, stabilen Hochs über Norddeutschland, sind im Juli gering.“

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Dabei ist ein Omega nicht unbedingt notwendig: In den vergangenen zehn Jahren war jeder Hamburger Sommer laut Statsitik zu warm. „Was fehlte, waren viele schöne Phasen am Stück“, sagt Alexander Hübener. Diese seien wichtig, um einen Sommer grundsätzlich positiv wahrzunehmen und abzuspeichern. Mitunter genüge für ein nachhaltiges Sommergefühl aber auch eine längere Warmluftperiode, bei der die Sonne nicht durchgängig scheint. Beide Parameter – lange Sonnen- oder Warmluftphasen - seien in den vergangenen Jahren selten erfüllt worden. Deshalb stellte sich kein Sommerempfinden ein.

Überdies war früher auch nicht alles tropisch. Zum Vergleich gab es in den Jahren 1982 bis 1992 gleich drei Sommer, die zu kalt waren, wobei das Jahr 1987 bei durchschnittlich 15,2 Grad auch noch zu nass und zu sonnenarm war. Prinzipiell, so Hübener, greife in der Rückschau ein weiteres wetterpsychologisches Phänomen: Wer viel Freizeit im Sommer hatte – etwa Schulferien -, dem reiche eine schöne Woche oder ein intensives Sonnenerlebnis, um den Sommer als „schön“ in Erinnerung zu behalten. Als Arbeitnehmer komme man kaum in diesen Genuss.

Zudem spiele das Wetter heute eine wichtigere Rolle als dereinst. Nicht nur Hamburger haben mit dem Aufkommen von Beachclubs und Freiluftfestivals viele Lebensbereiche nach draußen verlagert. Das Wetter hat unmittelbare Auswirkung auf die Freizeitgestaltung. Dementsprechend häufig wird darüber gesprochen, dementsprechend hoch ist die Frequenz der Befindlichkeitswechsel. Vielleicht fällt es heute deshalb schwerer, einzelne Tage wert zu schätzen.

Davon ausgehend ist der bisherige Sommer nämlich keineswegs ein Reinfall. Es gab schon einige Tage, an denen die Decken an Elbstrand oder Alster ausgerollt werden konnten. Freilich datiert der letzte Tag mit mehr als 30 Grad in Hamburg nun schon vom 22. Juli 2010. Aber das ist kein Grund, Petrus zu verwünschen, den Klimawandel anzuzweifeln oder per se am Hamburger Wetter herumzunörgeln. Vielmehr dürfte sich der Anspruch an den Sommer in nordischer Zurückhaltung üben. Umso mehr überrascht der nächste echte Sommertag. Denn – so viel ist sicher: Es wird auch in Hamburg einen geben.