Warum man von Boetticher und andere nicht auf einmalige Versäumnisse reduzieren darf.
Christian von Boetticher hat viel einstecken müssen in den vergangenen Wochen, manches zu Recht, manches zu Unrecht, nicht wenig war überflüssig und übertrieben. Nachdem er nach einer kurzen Pause nun wieder in den politischen Betrieb zurückgekehrt ist, sollte aber Schluss sein mit jener Geschichte, die ihn nicht nur fast alle politischen Ämter, sondern vor allem die Aussicht auf eine Zukunft als Ministerpräsident Schleswig-Holsteins gekostet hat. So schlimm von Boettichers Rückschläge in den vergangenen Wochen auch waren, das seltsame Versteckspiel in Hamburg und sonst wo eingeschlossen - noch schlimmer wäre es, wenn er den Rest seines (politischen) Lebens auf eine unschickliche (aber eben nicht gegen das Gesetz verstoßende!) Affäre reduziert würde.
Die Gefahr besteht, weil es in Deutschland leider üblich geworden ist, Personen und Persönlichkeiten auch dann noch über ihre Fehler zu charakterisieren, wenn diese lange zurückliegen beziehungsweise im wahrsten Sinne des Wortes längst verjährt sind. Wann wird Margot Käßmann ihre viel zitierte "Alkoholfahrt" loswerden, wann werden über Christoph Daum keine langweiligen Witze à la "Schnee von gestern" mehr gemacht? Das kollektive Gedächtnis hat einen seltsamen Hang dazu, sich besonders Verfehlungen zu merken und diese als Erstes auszuspucken, wenn der oder die Betroffene wieder in Erscheinung tritt. Dabei würde im Fall Käßmann der Hinweis darauf genügen, dass es sich um eine ehemalige Bischöfin und die ehemalige Vorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands handelt. Und bei von Boetticher darf man künftig selbstverständlich vom ehemaligen CDU-Landesvorsitzenden Schleswig-Holsteins schreiben. Ansonsten muss man ihm, wie allen anderen, die etwas falsch gemacht haben, aber die Chance geben, ein neues Leben zu beginnen, ohne ihn immer wieder mit jenem Fehler zu konfrontieren, der ihm sein altes zerstört hat.
Das mutet gerade im politischen Geschäft wie ein frommer, beinahe naiver Wunsch an, der trotzdem an dieser Stelle wenigstens einmal formuliert werden muss. Denn sollte Christian von Boetticher sich langfristig entscheiden, seine politische Karriere fortzusetzen, sollte er beispielsweise im nahenden Landtagswahlkampf in Schleswig-Holstein eine Rolle spielen wollen, wird es seine Gegner (und nicht nur die in den anderen Parteien) reizen, die Wunde in der Vita des ehemaligen Spitzenmannes aufzureißen. Das wäre nicht nur unfair, sondern auch unklug, weil ein solches Verhalten am Ende auf den zurückfällt, von dem es ausgeht. Wie es richtig geht, hat der SPD-Spitzenkandidat Torsten Albig gezeigt, der sich zu von Boetticher und dessen Problemen selbst in der akuten Phase so gut wie gar nicht geäußert hat. Das war nicht nur staatsmännisch und souverän, sondern vor allem der Situation angemessen und ist Albig von allen Seiten hoch angerechnet worden.
Ob die SPD diesen Stil wird durchhalten können, wenn der Wahltermin näher rückt, lässt sich heute noch nicht sagen. Es ist aber auch nicht so wichtig wie die Frage, wie die CDU künftig mit Christian von Boetticher umgeht. Dessen politischer Vater Peter Harry Carstensen hätte sicher (wie einige andere Parteifreunde) die Möglichkeit gehabt, die vermeintliche Torheit des Hoffnungsträgers zu verhindern beziehungsweise deren Folgen abzumildern. Das wurde, bewusst oder unbewusst, versäumt. Nun steht die CDU in der Pflicht, von Boetticher eine zweite Chance zu geben. Und sei es nur, um zu beweisen, dass gerade eine christlich orientierte Partei Fehler verzeihen und vergessen kann. Wenn man nicht noch mehr Menschen von dem Schritt in die Politik, in die Öffentlichkeit abhalten will, sollte das auch ein Lerneffekt aus der sogenannten Affäre von Boetticher sein.
Der Autor ist Chefredakteur des Hamburger Abendblatts