Wegen einer Fahrplanänderung musste 70-Jährige in Hamburg umsteigen und wartete vergeblich auf Zugbegleiter. Fall wird geprüft.
Hamburg. Margita Sikora, 70, liebt das Meer. "Die Möwen und besonders das Rauschen der Wellen klingen einfach wunderbar", sagt die blinde Rentnerin aus Bottrop. "Das hat so etwas Ewiges, als ob die Welt atmet." Seit Jahren macht sie deshalb Urlaub bei ihrer Schwester in Haffkrug an der Ostsee. Auch in diesem Sommer. "Aber diesmal war die Erholung schon nach wenigen Stunden wieder hinüber", sagt Sikora und atmet hörbar enttäuscht aus. Denn statt der ihr so lieben Geräuschskulisse wird ihr von dieser Reise hauptsächlich der Lärm des Hamburger Hauptbahnhofs in Erinnerung bleiben. Denn hier stand sie am vergangenen Sonntag eine Stunde lang hilf- und orientierungslos zwischen an ihr vorüberziehenden Menschenmassen, heranbrausenden Zügen und dröhnenden Lautsprecheransagen. "Der Schaffner war so freundlich", sagt sie. "Er sagte: ,Bleiben Sie hier stehen. Sobald der Zug kommt, setze ich Sie rein.'" Aber der Bahnmitarbeiter sei nie wieder gekommen, sagt sie, und schildert ihre Geschichte mit dem glimpflichen Ende.
Sie beginnt auf dem Bahnsteig in Haffkrug. Margita Sikora wird nach 14 Tagen Besuch bei ihrer Schwester von dieser zum Zug gebracht. Die Rentnerin nutzte die Zeit, um sich von einer Operation am Lid zu erholen. Um kurz nach vier Uhr soll laut Plan der Intercity kommen, mit dem sie direkt nach Dortmund durchfahren kann. Das ist praktisch, denn Umsteigen fällt ihr wegen ihrer Erblindun schwer. Nach einer Viertelstunde Warten kommt ein ICE - der Ersatz für den Intercity, der offensichtlich verhindert ist. Margita Sikora steigt ein. Während der Fahrt hört sie eine Durchsage, dass der Schnellzug nur bis Hamburg fahre und die Reisenden dort am selben Bahnsteig in den eigentlich geplanten Intercity umsteigen könnten. Mitfahrer weisen einen Zugbegleiter auf die blinde Rentnerin hin und bitten ihn, sich um sie zu kümmern.
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Der Bahnmitarbeiter hilft ihr mit ihrem Gepäck aus dem Zug und lässt sie anschließend allein stehen, so Margita Sikora. Er verspricht, wiederzukommen und ihr in den Intercity zu helfen. "Wenn mir nicht andere Fahrgäste geholfen hätten, stünde ich da heute noch."
Über eine Stunde bleibt die alte Dame auf dem Bahnsteig vor Gleis 8. "Meine Gefühlslage wechselte zwischen Ärger, Enttäuschung und Angst", sagt Sikora. Was, wenn jemand mir meine Handtasche klaut, während ich hier stehe? Was, wenn mein Zug jetzt auf einem anderen Gleis ankommt und ich ihn verpasse? Oder wenn ich weggehe, um mir Hilfe zu holen, und er dann hier einfährt? All diese Fragen seien ihr durch den Kopf gegangen. "Und auch körperlich ging es mir nicht gut", sagt Sikora. "Ich stand da ja die ganze Zeit, und es war keine Bank in der Nähe." Die Füße schmerzten, ihre Knie wurden wacklig und ihr war schwindlig. Die Rentnerin konzentrierte sich auf die Durchsagen. "Aber da habe ich nichts über Gleis 8 gehört", sagt sie. "Vielleicht stand etwas angeschrieben, aber das kann ich ja nicht sehen." Andere Fahrgäste wurden schließlich auf die Frau aufmerksam und brachten sie zur Bahnhofsmission. Die Mitarbeiter dort versorgten sie und setzten sie in den nächsten Zug nach Dortmund, wo sie ihr Bruder abholte. "Ich werde auf jeden Fall nicht mehr allein mit der Bahn fahren", sagt sie. Das macht ihre Urlaubsplanung komplizierter und schränkt ihre Freiheit weiter ein.
Heiko Kunert, 35, überrascht diese Schilderung nicht. "Der Service der Bahn für Blinde klappt, solange alles glatt läuft", sagt der Sprecher des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg. "Aber sobald es eine spontane Änderung gibt, wird es schwierig." Die meisten Blinden seien nicht in der Lage, in einem solchen Fall allein zurechtzukommen. Sie kennen den Bahnhof nicht, der Lärm erschwert das Heraushören der wichtigen Informationen, und die vielen Menschen machen es schwierig, etwa mit einem Blindenstock zu gehen. "Auch sind die Durchsagen oft nicht überall gut zu verstehen", sagt er. "Es müssten feste Mechanismen für den Fall einer außerordentlichen Änderung erarbeitet werden, die verhindern, dass so etwas passiert." Außerdem seien auch die Mitmenschen dazu aufgerufen, auf behinderte Personen zu achten und ihnen, wenn nötig, von sich aus Hilfe anzubieten.
Die Deutsche Bahn ist derzeit dabei, den Fall aufzuarbeiten, und will dann umfassend dazu Stellung nehmen. "Da unsere beteiligten Mitarbeiter jedoch im Schichtdienst arbeiten, kann dies erst in den nächsten Tagen erfolgen", sagt Bahnsprecher Egbert Meyer-Lovis. Sollte sich herausstellen, dass Mitarbeiter nicht so gehandelt haben, wie es im Service für "mobilitätseingeschränkte Kunden" sonst üblich sei, werde man sich bei Margita Sikora entschuldigen. Denn der Deutschen Bahn liege viel daran, Fahrgästen mit Einschränkungen die Reise mit der Bahn bestmöglich zu erleichtern.
Dafür wurde 1999 extra der kostenlose Mobilitätsservice eingerichtet. Dabei wird Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, etwa beim Um-, Ein- und Aussteigen geholfen. Der Service der Deutschen Bahn wird jährlich rund 500 000-mal genutzt, bei der Hälfte davon mit einer vorherigen Anmeldung des Betroffenen.