Für die SPD arbeitete Voscherau viele Jahre in der Politik, 1988 bis 1997 war der heute 70-Jährige Erster Bürgermeister der Hansestadt.
Hamburg. Aus den Fenstern seines Zimmers im Notariat am Alstertor kann Henning Voscherau das Rathaus nicht sehen. Trotzdem ist es präsent: An einer Wand hängen alte handkolorierte Pläne für die Fassadengestaltung. Gegenüber, etwas freier, einiges von Horst Janssen. Und in einer Ecke ein kleines Bild der besetzten Häuser an der Hafenstraße: Es symbolisiert, sagt er, Wert und Bedeutung gewaltfreier demokratischer Auseinandersetzung. Genau wie der Pflasterstein, der 1986 während einer Pro-Hafenstraßen-Demo am Sievekingplatz an seinem Kopf vorbeiflog, und den er immer noch hier aufbewahrt. Aber nicht mehr lange: Dieses Büro wird er Ende August aufgeben, da seine Tätigkeit als Notar mit dem Monat, in den sein 70. Geburtstag fällt, enden muss.
Anders als das Amt des Ersten Bürgermeisters, das er bis 1997 bekleidete. Zumindest dessen Nachwirkungen wird er wohl nie los. Noch immer bekommt er Briefe an den Bürgermeister - Menschen, die ihn um Hilfe bitten. Noch immer erkennen ihn Leute auf der Straße. "Solange sie dabei lächeln oder mir zuwinken, kann man ja nicht alles falsch gemacht haben", sagt er.
Voscherau erinnert sich noch genau an den Tag der Trennung von dem Amt, "mit dem ich ja durch und durch verheiratet war". An die Kraft, die es kostete, das alles mit Haltung durchzustehen - den Rücktritt, weil er keine Koalition mit den Hamburger Grünen wollte, hält er noch immer für "politisch unschön, aber zwingend". Heute, sagt er, würden wohl die meisten Berufspolitiker die Kröte gesichtswahrend schlucken und weitermachen.
"Wer in die Politik geht, der verbrennt sich die Finger. Junge, lass die Finger davon!", Voscheraus Mutter Martha
In seiner Amtszeit gab es nicht nur Sonnenschein. Sondern auch Anschläge, Farbbeutel aufs Privathaus, einmal wurde es sogar von Autonomen blockiert, erzählt er. "Biografisch für die Kinder keine gute Erfahrung. Aber das sind Petitessen im Verhältnis zum Mord an Olaf Palme oder jetzt den Morden in Norwegen."
Eine Zeit lang musste er bei öffentlichen Auftritten eine kugelsichere Weste tragen. "Der Staatsschutz sagte, in konspirativen Wohnungen der RAF seien ausgespähte Details meiner Tagesabläufe, die verdeckten Kennzeichen der Schutzfahrzeuge und meine Muss-Wege aufgetaucht." In der Fabrik wurde mal ein Mann mit einem Messer gefasst, der sich langsam zu Voscherau vorarbeitete. Der Bürgermeister wird in einer gepanzerten Limousine gefahren. Und er denkt: "Wenn wir morgens auf dem Weg ins Rathaus an einer Kreuzung halten mit dem schweren Auto, und aus der U-Bahn strömen Hundertschaften Wähler und denken: Ist ja mein Geld, eure Luxuskarossen." Er selbst wäre lieber S-Bahn gefahren.
Von vielen wird er immer noch mit "Herr Bürgermeister" angesprochen. Das Gefühl der Verantwortlichkeit für die Stadt und ihre Bürger, die Identifikation mit Hamburg, das bleibt. Es gibt immer wieder Anfragen, die sein Wissen darüber, wie die Stadt funktioniert, suchen. In seinem Fachgebiet, Wohnungsbau- und Gewerbeimmobilien-Projekte, hilft er, wenn er sicher ist, dass das Projekt "aus meiner subjektiven Sicht gut für die Stadt ist und ich mich damit sehen lassen mag", durch Hinweise, wie man Probleme entknoten kann. "Ohne Rechnung."
Als er noch im Amt war, sah man bei ihm, wenn er öffentlich sprechen sollte, jedes Mal einen sichtbaren kleinen Ruck - als müsse er erst in seine Rolle schlüpfen. Schüchtern sei er, verrät er. Als er zum ersten Mal von der Bundesratsbank aus vor dem Bundestag sprechen sollte, und auf der Regierungsbank saßen Kohl und Waigel, "da hätte ich lieber weiter still dagesessen. Solche Auftritte wurden später durch Gewöhnung leichter", lacht er.
In seiner Biografie ist eingetreten, wovor ihn seine Mutter Martha - "die geradezu militant politisch war" - immer gewarnt hatte: "Wer in die Politik geht, verbrennt sich die Finger. Junge, lass die Finger davon." Sie wusste, wovon sie redete. Voscheraus Vater Carl wurde 1933 und 1937 von den Nazis aus seinen Jobs gefeuert, ihr Schwiegervater auch 1933, ihr ältester Bruder war Mitglied einer Untergrund-Widerstandsgruppe, in Harburg und Wilhelmsburg, die 1935 aufflog. Andererseits waren der Großvater seit 1904, der Vater seit 1918 in der SPD, wo sie bis zu ihrem Tod blieben. "Mein Vater hatte 1945 das SPD-Mitgliedsbuch Nr. 11, bevor die Partei wieder zugelassen war."
"Es muss wesentlich tiefer sinken, bis wir Aussicht haben, gehört zu werden" - könnte heute von mir sein , Henning Voscherau
Dieser Familienlinie sollte er nacheifern. Vieles hat ihn geprägt. Seine allerersten Erinnerungen: Geräusche der Bombennächte, Sirenen, Aufwecken und In-den-Keller-Flüchten, das Brummen Hunderter Bomber, Explosionen. "Ich glaube, das hat sich ausgewirkt bis in meine Haltung gegen die Nato-Einsätze in Jugoslawien."
Dann die Nachkriegswinter, alle Fenster zerstört, Wasserleitungen durch den Frost geplatzt, Donnerbalken im Garten. Nächtliche Geräusche von illegalem Baumfällen. In der Küche ein kleiner rot glühender Ofen, die Kinder mit Wäscheleinen an den Tisch gebunden, damit sie sich nicht dran verbrannten. Und der Hunger. Henning Voscherau galt 1951 noch als unterernährt. Dankbar sei er, danach Wirtschaftswunder, Freiheit und Frieden erlebt zu haben, "das gibt einem Maßstäbe fürs ganze Leben". Er hat sie an seine Kinder weitergegeben, sagt er. "Nur den Hunger, den können Sie nicht fingieren."
Als Jugendlichen prägten ihn der Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953, Ungarnaufstand und Suez-Krise 1956, der Mauerbau an seinem 20. Geburtstag, dem 13. August 1961. Und 1966, direkt nach seinem Jura-Examen, trat Voscherau in die SPD ein. "Weil ich nach dem Tod von Großvater und Vater plötzlich der älteste lebende männliche Voscherau war. Und dachte: Jetzt musst du Flagge zeigen."
Er machte Partei-Karriere, stand zwölf Jahre an der Fraktionsspitze und war fast zehn Jahre Erster Bürgermeister, 1988 bis 1997. Er wird auffällig oft als Hanseat bezeichnet. Was meint das denn für ihn? "Man gibt sein Wort und hält es. Man bewahrt Haltung. Man ist nicht schnell gewinnbar, aber dann verlässlich." Klingt in der heutigen Geschäftswelt ziemlich old-fashioned. "Tja, ist aber doch richtig."
Er mischt sich manchmal noch ein. "Ich hatte einen Strauss mit Schröder und Fischer in der Sache völkerrechtswidriger Angriffe auf Jugoslawien. Ich frage, was in Sachen der Frau Bundeskanzlerin und des Euro passiert, wenn ihre Griechenland-Strategie nicht aufgeht und es einen Domino-Effekt gibt." In Hamburg stellte er sich gegen Parteifreund Olaf Scholz - mit seiner Unterschrift für den kompletten Rückkauf der Energienetze durch die Stadt.
Ab September wird er seinen Sohn, der Rechtsanwalt ist, unterstützen - für Anwälte gilt keine Altersgrenze. Seine Frau Annerose werde dann, meint er, strahlen und sagen: Wohlgetan!
Kurz vor dem jährlichen Sylt-Urlaub - "seit 1948, als mein Vater da einen Film mit Käutner gedreht hat" - ist der Altbürgermeister völlig entspannt, blendend gelaunt, er verrät sogar Geheimrezepte. Wie das für seine schon 40 Jahre währende Ehe: "Zu Anfang ist man verliebt, dann wird es Wärme, und die Liebe wird ergänzt durch Freundschaft und Kameradschaft. Und dann kann man auch kräftig miteinander streiten, ohne dass es die Beziehung zerstört." Im Übrigen sei es eine Willensfrage: Will ich mit diesem Partner alt werden?
Stimmt es, dass er immer noch in seinen Hochzeitsanzug von vor 40 Jahren hineinpasst? Es stimmt, und Voscherau klärt auch noch auf, warum er, trotz Vater und Onkel Walter Scherau, die deutlich beleibt waren, so schlank bleibt: "Sie haben nur die Fotos von den beiden. Ich komme aber nach der Familie meiner Mutter." Um die 70 Kilo habe er seit Jahrzehnten, trotz seines Hangs zu Süßigkeiten.
Früher hat ihm der Sport dabei geholfen, das zu halten. Heute spielt er nur selten Fußball und Hockey, denn er halte sich an seinen Grundsatz: "Spiele nie gegen übergewichtige, überehrgeizige Jüngere, die das nicht können. Das bringt dich ins Krankenhaus." Heute spielt er nur noch bei extra organisierten Nostalgie-Anlässen, mit Leuten, im Alter von 60+, die mal Medaillen und Meisterschaften gewonnen haben. "Da weiß man, was die tun, das ist ungefährlich." Blaue Flecken hat er manchem beigebracht, und amüsiert sich über die, die das heute einfach behaupten, "weil ich inzwischen Bürgermeister war".
Immer wieder fällt sein Name, wenn über Politik geredet wird. Für eine Rückkehr aber hängt er die Latte sehr hoch: "Wenn ich glauben könnte, dass ich einen weichenstellenden Einfluss haben würde auf ganz große Fragen nicht der Stadt Hamburg, sondern des deutschen Volkes und der Europäer. In Angelegenheiten, von denen ich tief glaube, dass sie gegenwärtig ganz falsch gemacht werden und dass die Political Correctness à la Europa, also Brüssel, Paris, Berlin, uns in die Irre führt. Aber das wird nicht geschehen."
Voscherau macht eine kleine Pause und zitiert einen Satz aus der Sonthofener Rede von Franz Josef Strauß, 1974: "Es muss wesentlich tiefer sinken, bis wir Aussicht haben, politisch mit unseren Vorstellungen, Warnungen, Vorschlägen gehört zu werden." Manchmal denke er: "Dieser Satz könnte heute auch von mir sein - was ja keine schöne Aussage ist."
Nächste Folge Den roten Faden reicht Henning Voscherau am kommenden Sonnabend weiter an Annemarie Dose , die Begründerin der Hamburger Tafel: "Erstens ist sie die Schwiegermutter eines der besten Hockeystürmer, mit dem ich je die Chance hatte aufzulaufen - Herbert Reiher. Und zweitens hat sie aus dem Nichts diese wunderbare Idee der Hamburger Tafel realisiert: das Einsammeln überflüssiger Lebensmittel und deren Verteilung an Bedürftige. Sie kommt aus der Mitte der Gesellschaft und zeigt: Man kann etwas verändern." (abendblatt.de)