Den Anfang der Serie machte vor einer Woche Henning Voscherau. 2. Folge: Annemarie Dose, Gründerin der Hamburger Tafel.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die etwas Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten.

Wir haben kein eigenes Geld, wir arbeiten umsonst, wir kriegen die Ware umsonst, wir haben Sponsoren, und wir geben umsonst ab." Für das, was sie tut, hat Annemarie Dose, die vor 17 Jahren die Hamburger Tafel gegründet hat, diese einfache Formel gefunden. In der spürt man, wie sehr sie sich selbst noch immer darüber wundert, warum das funktioniert, was sie da losgetreten hat.

Ist es die Überzeugungskraft der praktischen Vernunft, ist es die vibrierende Machermentalität dieser Frau, der man ihre 83 Jahre einfach nicht glauben möchte? "Berührungsängste - ich hab geene." Manchmal, wenn sie sehr engagiert redet, schimmern ganz dezent die sächsischen Klänge ihrer Herkunft aus einem Dorf ganz in der Nähe von Meißen durch. "Augen zu und los. Meistens rennt man sowieso offene Türen ein."

Woher hat sie diese zupackende Art? "Vielleicht kriegt man die, wenn man die Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt hat, mit Not konfrontiert worden ist und deshalb gelernt hat, Probleme ganz praktisch zu lösen." Improvisieren, organisieren, aus Nichts was machen - das sei viel schwerer, wenn man im Wohlstand groß geworden ist. "Heute", sagt sie, "denken die Leute zuerst an die Schwierigkeiten. Damals hieß es: Da musste durch. Und es geht immer."

Sie redet zügig, manchmal sprudelt es nur so aus ihr heraus. Und immer wieder dazwischen das eigene Erstaunen. "Ich begreif's immer noch nicht." Ist ja auch ungewöhnlich in der heutigen Zeit. 1994, ein Jahr nach der Gründung der Berliner Tafel, hat sie die Hamburger Hilfsorganisation gegründet. Da war sie 66. "Bis dahin war ich Haushaltungsvorstand, Haus und Garten, Familie und Altvordere." Sie ist in Geschäften nicht besonders geübt, "ich wurde verwaltet, das war bei Frauen unseres Jahrgangs eben so." Dann stirbt ihr Mann, ein Bauingenieur. Um sich selber zu retten, fängt sie nach einem Jahr der Trauer an, mit dem Brotkorb bei Bäckern nicht verkauftes Brot abzuholen und es über die Heilsarmee und Pik As an Obdachlose zu verteilen.

Die Reaktionen ihrer Umgebung sind zwiespältig. Ihre Kinder haben erst einmal Angst, dass sich die Mutter blamiert. Die Bäcker haben Angst um ihre Kunden. Annemarie Dose kann das nicht aufhalten. Auch ahnt sie damals nicht, dass heute 20 000 Menschen bei 900 Tafeln in Deutschland mitarbeiten. Annemarie Dose macht sich in Amerika schlau, wo bei solchen sozialen Bewegungen Bürger bis hinauf in die vermögendsten Kreise ganz selbstverständlich mit anpacken, "davon können wir hier noch viel lernen".

Der Brotkorb hat längst ausgedient, heute hat die Hamburger Tafel ein großes Lager mit Kühlräumen an der Bramfelder Straße, neun Kühlwagen sorgen dafür, dass Lebensmittel von dort, wo sie nicht gebraucht werden, ohne Qualitätsverlust dorthin kommen, wo die Not und der Bedarf groß sind. 120 Mitarbeiter sind dafür im Einsatz. "Gestern kamen 32 000 Flaschen aromatisiertes Olivenöl" - es hat einen langen Weg hinter sich, von Italien nach Australien bis nach Hamburg. Auch eine solche Menge ist kein Problem. Palettenweise Nudeln lagern hier, Schokolade, Getränke, Konservendosen. "Ich möchte mal wissen, wie viele Millionen wir hier in den vergangenen 17 Jahren umgesetzt haben." Ein Handbuch gab es nicht, als Annemarie Dose anfing. "Wir haben uns alles selbst beigebracht. Oft reicht ja ein Blick in die Gelben Seiten." Läden ohne Kassen wie in Berlin wollte sie nicht. "Da gibt es dann Schlangen, die die Abholer deklassieren." In Hamburg wird die Tafel-Ware über mehr als 100 Anlaufstellen verteilt, Einrichtungen für Alte, Kinder, Frauen, Obdachlose, Drogenabhängige, zu denen Bedürftige sowieso kommen. "Wir sind da eine Art Großhandel." 14 Anlaufstellen bei den Kirchen sind dazugekommen, "die geben Räume und Leute, wir die Ware".

Es gibt nichts, was die Tafel verkommen lässt. Alte Handys werden gesammelt - für den recycelbaren Rohstoffwert gibt es einen Euro pro Gerät. "Da kommen schnell 100 000 zusammen", freut sich die Tafel-Chefin. Rollstühle, Rollatoren, Krücken stellen die Recyclinghöfe für sie beiseite. "Die gehen dann nach Bulgarien oder Weißrussland. Ich kann einfach nicht sehen, dass so was vernichtet wird." Längst nimmt sie nicht mehr nur, was übrig ist. Sondern sie fragt auch aktiv, ob sie Dinge bekommen kann, die andere dringend benötigen. Schlafsäcke zum Beispiel, "2500 Stück kriegen wir". Oder Isomatten für die, die draußen schlafen müssen. "Die wollten wissen, wie viele ich da brauchen kann. Ich hab gesagt: 'Alle, die Sie entbehren können.' Es kamen 8000, die sind fast alle schon verteilt. Bis rüber nach Frankfurt an der Oder." Handyverträge für ihre Arbeit, Speditionsleistungen, Lieferwagen - die Scheu, zu fragen, kennt Annemarie Dose nicht. "Ablehnen können sie ja immer." Sie weiß: Viele Spender haben selbst einen Nutzen von der Weiterverwertung, sie sparen die Entsorgung, bekommen eine Spendenquittung.

Was sie mag, ist, dass jeder Tag neue Herausforderungen bringt, neue Lösungen gefunden werden müssen. "Geht nicht gibt's nicht", sagt sie. Ihr glaubt man's sofort. Weil viele ihrer Lebensmittel-Empfänger gar nicht richtig kochen können, hat sie Kochkurse eingerichtet und Kochbücher drucken lassen: Wie kocht man billig und gut. "Für vier Personen kostet eine Mahlzeit da nicht mehr als fünf Euro." 15 000 Stück hat sie in knapp vier Monaten verkauft, das Buch zu acht Euro. Ein zweites Buch kann man noch erwerben, "vielleicht gibt es ja Firmen, die das anstelle von Kalendern verschenken".

Sie hat ihre Erfahrungen gemacht. "Anrufen allein nützt nichts. Wenn man Erfolg haben will, muss man immer ganz oben hingehen - zu einem, der auch zu seiner Verantwortung steht." Auch deshalb ist sie eine begnadete Netzwerkerin geworden, tummelt sich bei Empfängen und Events. "Mit einer Visitenkarte komm ich immer zurück."

Warum es gerade die Tafel geworden ist? Szenen der Kindheit fallen ihr ein. Sätze wie "Mit Essen spielt man nicht" oder "Brot wirft man nicht weg". Die Großmutter hatte den Gasthof mit der Turnhalle im Dorf, der Vater die Krämerläden, der andere Großvater eine Glasfabrik. In der Familie galt: Wenn du besitzt, musst du auch abgeben. "In den ersten Schuljahren durfte ich so viele Kinder jeden Mittag mit nach Hause zum Essen bringen, wie an den Stammtisch bei meiner Großmutter passten. Das waren zwölf, ich brachte also elf Kinder mit. Und die wechselten jede Woche. Das waren ja die Kinder der Leute, die zum Teil auch bei meiner Familie arbeiteten." Da dachte sie noch lange nicht an die Tafel, erlebte aber schon, wie sie funktioniert.

Wer als Obdachloser um Essen bat, musste vorher Holz hacken. Die Großmutter hat es einmal so erklärt, als die kleine Annemarie sich deswegen schämte: Er behält seine Würde, denn er hat sich das, was er jetzt kriegt, verdient. "Hab ich damals nicht verstanden, aber es ist richtig." Die Würde der Empfänger ist eines der Leitmotive, unter die sie heute ihre eigene Arbeit stellt.

"Moin Hermann!" Annemarie Dose hat für jeden Tafel-Mitarbeiter ein freundliches Wort. An der Pinnwand hängen die Fotos, meist sind es ältere Menschen. "Wer hat denn dafür sonst Zeit?" Dabei sind ehemalige Handwerker, Anwälte, ein Frauenarzt, ein Richter, ein Kriminalbeamter, ein Betriebsratsvorsitzender. Die Begründung, warum sie mitarbeiten, klingt überraschend wie logisch: "Wir tun es aus Egoismus", sagt die Tafel-Gründerin, "denn wir tun es ja auch für uns selber. Wir sind mit unserer Welt wieder ganz im Reinen." Die Mitarbeiter werden gebraucht und überall mit Freuden und Dank empfangen, "das geht doch runter wie Öl".

Manchmal sind auch Jüngere da, für ein paar Tage oder Wochen. Praktikanten, auch Polizeischüler und Haspa-Auszubildende. "Die machen bei der Aktion Seitenwechsel mit, damit sie sehen, was da draußen los ist. Das sind ja Kinder aus gutbürgerlichen Elternhäusern, die so etwas gar nicht kennen. Wir geben ihnen etwas mit für später, zum Nachdenken. Da wird echt ein Samenkorn gelegt."

In Hamburg ist eine Stiftung gegründet, die als "Sparschwein" der Tafel einspringen soll, wenn das Geld mal knapp wird, "da kann ich noch jede Menge Zustiftungen brauchen". Auch ihre größte Sorge löst sich gerade auf: jemanden zu finden, der ihre Arbeit später mal übernehmen kann. In Achim Müller, der schon lange dabei ist, sagt sie, hat sie "einen tollen Nachfolger" gefunden. Annemarie Dose ist unermüdlicher Motor, jeden Tag im Einsatz, Ruhepausen kennt sie kaum. "Ich hab ja nicht mehr so viel Zukunft mit 83, ich kann doch nicht mehr auf fünf Jahre im Voraus rechnen - also ändert sich die Einstellung zum täglichen Leben, weil ich für jeden Tag dankbar bin, den ich noch arbeiten darf."

Ihr zweites Zuhause auf Sylt sehen deshalb öfter andere als sie selbst. Aber auch auf Sylt trägt ihre Arbeit Früchte: Auf der Insel gibt es eine Tafel, "na klar, die hab ich ja mitgegründet". So viel Tatkraft ist einfach ansteckend.

Informationen zur Hamburger Tafel: 040/44 36 46, Anfragen im Internet unter www.hamburger-tafel.de

Nächste Folge Den roten Faden gibt Annemarie Dose in der Ausgabe am kommenden Sonnabend an Gert Prantner weiter. "Ich finde, er ist herausragend und bedeutend, weil er auch nach seiner Tätigkeit als Direktor des Hotels Vier Jahreszeiten die hanseatischen Tugenden in die Welt trägt und die Jugend fördert."