Diplom-Psychologe Michael Thiel, 51, ist Spezialist für Verhaltenstherapie
Hamburger Abendblatt:
1. Tagtäglich stecken die Hamburger im Stau und müssen sich in Geduld üben. Verursacht wird das "Stop and go" durch Baustellen in der City und die Sperrung zweier Elbtunnelröhren. Wie bewahrt man als Autofahrer die Ruhe im Stau?
Michael Thiel:
Er sollte die Situation realistisch einschätzen und sich bewusst machen: Der Stau bleibt, auch wenn ich mich aufrege. Falls ein wichtiger Termin zu platzen droht, kann er Schadensbegrenzung betreiben und seine Verabredung anrufen. Indem er im Radio die Staumeldungen verfolgt - also objektiv Informationen sammelt -, kann der Autofahrer sich darauf einstellen, wann sich der Stau auflöst.
2. Welche konkreten Strategien empfehlen Sie?
Thiel:
Wenn der Verkehr völlig zum Erliegen kommt und das Auto steht, ist eine Kurzentspannung hilfreich. Dabei zählt die Person ihre Atemzüge und versucht, sich auf das Atmen und Zählen zu konzentrieren. Auf diese Weise lernen die kleinen buddhistischen Mönche das Meditieren. Diese Technik bewirkt beim Autofahrer, dass sein Nervensystem langsam herunterfährt. Die Gedanken rund um den Stau werden bewusst unterbrochen. Möglich ist auch eine Kurzform der progressiven Muskelentspannung. Dabei spannt der Autofahrer nacheinander Hände, Beine Füße und das Gesicht an und hält die Anspannung etwa zehn Sekunden lang. Danach entspannt er plötzlich alle Muskelpartien. Der Autofahrer wird merken, wie angenehm und wohltuend es sich anfühlt, wenn das Blut in die Muskeln zurückströmt. Es stellt sich ein Gefühl von Wärme ein.
3. Wie sollte ein Verkehrsteilnehmer reagieren, wenn er offensichtlich provoziert wird?
Thiel:
Zur Provokation gehören immer zwei. Wenn ich mich nicht provozieren lasse, geht die Provokation des anderen ins Leere. Deshalb sollte man am besten wegschauen, das Radio anstellen und keine Reaktion zeigen. Das ärgert den Provokateur am meisten.
4. Warum ärgern wir uns über Staus überhaupt?
Thiel:
Wir erleben im Verkehrsstau einen absoluten Kontrollverlust und sind der Situation hilflos ausgeliefert. Die Freiheit, uns dahin zu bewegen, wo wir wollen, wird eingeschränkt. Dadurch entsteht Stress, der sich in Form von Wut und Ärger äußert. Diesen aufgebauten Stress kann der Autofahrer nicht abbauen, weil dazu Bewegung gehört. Doch im Auto ist das nicht möglich. Wir bleiben also auf dem Stress sitzen.
5. Kann der Autofahrer dem Stau auch etwas Positives abgewinnen?
Thiel:
Stauresistente Menschen finden sich mit der Situation ab. Sie legen beispielsweise ihre Lieblings-CD oder ein Hörbuch ein und genießen die zwangsläufig gewonnene Zeit.