Selbst in der dicht besiedelten Innenstadt verhindern Fledermäuse oder Eidechsen Wohnungsbau-Projekte. Damit muss Schluss sein - fordert nicht nur Senats-Beauftragter Michael Sachs
Damerowsweg Nummer 8, mitten in Barmbek. Hier stehen alte, lange Häuserblocks. Der Osterbekkanal mit dem Museum der Arbeit und schicken Neubauten am Ufer ist in der Nähe. Genau wie der Barmbeker Bahnhof, der nun endlich aufgehübscht wird. Ein ziegelroter Stadtteil auf dem Weg, schick zu werden. Eidechsen wird der Beobachter hier wohl nicht vermuten. Doch die kleinen Reptilien kommen gerade am Damerowsweg groß raus. Denn damit sie wirklich aus einem Häuserblock rauskommen, soll - so steht es in einem Vorbescheid des Bezirks - eine bestehende Baulücke nicht geschlossen werden. Die Hanseatische Bau-Genossenschaft hatte beantragt, eine kleine Garage in der Baulücke abzureißen, um dort einen viergeschossigen Bau plus Tiefgarage zu errichten.
Den Damerowsweg nannte Hamburgs neuer Wohnungsbau-Koordinator Michael Sachs als Beispiel, wie bizarr in den Bezirken manchmal Bauvorhaben behandelt werden. Zurzeit sei das Projekt eine "Hängepartie". Darauf angesprochen beeilte sich der zuständige Bezirksamtsleiter Wolfgang Kopitzsch mitzuteilen, dass der Fall mit dem Schließen der Lücke "schnell gelöst" werden soll. Um gleich massive Kritik an Michael Sachs nachzuschieben: Dass der Bezirk nach rechtlichen Grundsätzen handele, so Kopitzsch, das passe dem Koordinator wohl nicht.
Michael Sachs nannte weitere Beispiele: Bei der Planung des großen Othmarschen-Parks an der Autobahn in Altona müsse nun eine Ausgleichsfläche geschaffen werden, weil die Bagger den dortigen Kiebitz verjagen würden. "Die Frage ist, ob wir vernünftiges und ökologisch richtiges, verdichtetes Bauen in Hamburg nicht ermöglichen, weil der Kiebitz da nistet. Oder: Ob wir mitten in Hamburg an der Autobahn gleiche Verhältnisse in der Natur erhalten müssen wie in Schleswig-Holstein", sagte er. Seine Forderungen: keine Hängepartien mehr, sondern "Herbeiführen von Entscheidungen, Verlässlichkeit im Umgang mit Baugenehmigungen, Beratung statt Belehrung, Dienstleistung und kurze Bearbeitungsfristen". Sachs führt gewissermaßen einen Feldzug gegen die seiner Ansicht nach ausufernde Bürokratie.
Beispiele dafür gibt es viele. Denn ein anderes scheues Tierchen hat sogar einen großen Konzern so verschreckt, dass er sein Bauvorhaben gleich aufgegeben hat: Die Strabag Real Estate GmbH, ein großer Baukonzern, wollte in Mundsburg gegenüber dem Einkaufszentrum ihre Konzernzentrale errichten. Sie sollte direkt an der dort sechs- bis zehnspurigen Straße liegen. Ein Areal, das Fledermäuse offenbar ebenso wenig abschreckt wie Baukonzerne. Jedenfalls haben Bezirksmitarbeiter auf dem Gelände Fledermauskot entdeckt. Die Hinterlassenschaften der nächtlichen Flieger haben den Konzern so stark verschreckt, dass er nun seine Zentrale an der Reeperbahn auf St. Pauli in den "Tanzenden Türmen" errichtet, wie Thomas Hohwieler, Chef der Strabag Real Estate GmbH, dem Abendblatt bestätigte. Der Konzern hätte in Mundsburg seine Planungen den Fledermäusen anpassen müssen - was zu großen Verzögerungen geführt hätte. Das Grundstück ist weiter unbebaut.
Die Strabag wird sich an den Wachtelkönig erinnert haben. Der Vogel ist in Hamburg das Synonym für den Gegensatz von Naturschutz und Bauprojekten, weil er in den 90er-Jahren in Neugraben ein Wohnungsbau-Projekt verzögerte und die Zahl von neuen Wohnungen dramatisch sinken ließ.
Die Handelskammer betrachtet die ganze Entwicklung mit zunehmender Sorge. "Immer mehr Bauvorhaben werden durch Partikularinteressen verzögert oder gar blockiert", sagt Jan-Oliver Siebrand, Leiter der Abteilung Stadtentwicklung. Gezielte Siedlungsentwicklung sei aber im Gesamtinteresse einer nachhaltig wachsenden Stadt. "Verdichtung in Hamburg schont die Landschaft im Umland und verhindert Zersiedelung."
Eimsbüttels Bezirksamtsleiter Torsten Sevecke (SPD) beklagt, dass jeder Bürger ein Projekt verzögern kann - ganz gleich, wie unsinnig seine Einwände auch seien. Denn jede Petition an den Eingabenausschuss der Bürgerschaft habe aufschiebende Wirkung. "Die Sperrwirkung von offensichtlich aussichtslosen Petitionen sollte überdacht werden", sagt er. Sevecke plädiert für die Einführung eines Vorprüfungsausschusses. "Dieser kann in ganz kurzer Zeit die offensichtliche Aussichtslosigkeit der Petition feststellen."
Für Eckhard Pahlke, Vorsitzender des Mietervereins zu Hamburg, ist die Devise klar: "Der Wohnungsbau muss in Hamburg definitiv Priorität haben. Deshalb müssen die Behörden schnell agieren und sollten sich nicht von bizarr anmutenden Gegeninteressen abhalten lassen." Selbstverständlich sei Umweltschutz ein wichtiges Thema. "Aber die Unterbringung von Menschen ist angesichts der Wohnungsnot in Hamburg wichtiger als etwa der Erhalt eines Lebensraums von Insekten", sagt Pahlke.
Dass Wohnungsbau Priorität haben muss, ist eigentlich Konsens in der Stadt. Denn das Problem, dass vor allem Geringverdienende keinen bezahlbaren Wohnraum finden, wächst stetig. Es bilden sich Bürgergruppen wie "Recht auf Stadt" oder "Leerstand zu Wohnraum", die leer stehende Häuser besetzen, gegen steigende Mieten und für mehr günstigen Wohnraum demonstrieren. Sie gehören ebenso zum Hamburger Alltag wie die Bürgerbegehren gegen Bauprojekte.
Mit den Protesten müssen keineswegs nur Immobilienunternehmen klarkommen, die Luxusbauten errichten wollen. Das gilt auch für Genossenschaften wie die Allgemeine Deutsche Schiffszimmerer Genossenschaft (ADSG), die keine Gewinninteressen haben. "Über neuen Bauprojekten schwebt immer das Damoklesschwert", sagt Holger Müller, Prokurist der ADSG. Er sieht es kritisch, wenn sich trotz einer intensiven Bürgerbeteiligung am Ende des Planungsverfahrens "eine Zusammenballung der Egoisten" auf einmal aufbäumen und Projekte aushebeln könnte. Um das zu vermeiden, sei der Senat gefragt. "Er müsste durchgreifen."
Michael Sachs kennt einen Fall, der das Problem mehr als verdeutlicht. Ein Eigenheimbesitzer wollte anbauen und so eine zusätzliche Wohnung schaffen. Er erhielt den Hinweis: Es müsse nur noch die Nachbarschaft zustimmen. Sachs: "Nach einem halben Jahr hat er die Zustimmung aller Nachbarn. Dann heißt es von der Behörde: Er muss noch Gutachten bringen. Die bringt er auch alle." Doch nach einem Jahr habe der Bezirk (welcher, das will Sachs nicht verraten) gesagt: Nun solle es doch bitte schön ein neuer Bebauungsplan sein. Sachs: "Bisher gab er 100 000 Euro für die Planung aus. Der B-Plan wird gemacht, und nach insgesamt sechs Jahren scheitert das Bauvorhaben an der Bezirksversammlung, die sagt: Nee, da wollen wir lieber eine Grünfläche haben." Wohnraum schaffen wird der Mann wohl nie mehr ...