Die Jesuiten wollen den Opfern helfen und schmerzliche Wahrheiten akzeptieren. Doch eine vollständige Entschädigung wird nicht möglich sein
Hamburg/Berlin. "Der Jesuitenorden hat als moralische und pädagogische Institution versagt." Das schreibt die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer in ihrem Sondergutachten über die Missbrauchstaten an drei Jesuitenschulen in den 1970er- und 1980er-Jahren, darunter das Berliner Canisius-Kolleg. Ihrer Auffassung nach hatte der Orden die Opfer seinerzeit nicht im Blick. Dieses Urteil tut uns Jesuiten sehr weh. Aber wenn wir bereit sind, uns auf die Aufklärung von Missbrauch einzulassen, müssen wir diese schmerzliche Wahrheit akzeptieren.
Aus der Perspektive der Opfer hat die Aufklärung zwei Seiten: die Missbrauchstat selbst und die Erfahrung mit der Institution oder dem "System", in dem der Missbrauch geschah. Die Opfer fanden kein Gehör - über Jahre. Als sich ein Jugendlicher am Canisius-Kolleg beim Schulleiter beschwerte, warf dieser ihn mit den Worten "Du lügst" aus dem Büro heraus. Andere Opfer versuchten, in ihren Familien zu sprechen. Hier bekamen sie zu hören: "So redet man nicht über einen Priester." Oder: "Um Gottes willen, sei bloß still!"
Schlimm war für die Opfer auch die Erfahrung, dass die Beschwerde in einigen Fällen ankam, die Täter aber nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern in neue Jugendarbeiten versetzt wurden.
Mit dem Anliegen der Aufklärung wenden sich die Opfer nicht an die Täter, sondern an die Institution. Oft gibt es dort das Missverständnis, dass die Opfer nur an einer Aufklärung in Bezug auf die Täter interessiert seien. Doch das ist zu kurz gegriffen. Gerade weil der Missbrauch diesen zweiten, sehr schmerzlichen Aspekt hat, muss sich die Institution selbst - sei es die Schule, die Familie, die Kirche, der Verein - der Aufklärung stellen. Sie muss daran mitwirken. Es bedarf aber zusätzlich einer unabhängigen Instanz. Die Idee der unabhängigen Ombudsstellen basiert auf dieser Einsicht. Im Fall der Fälle ist die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft notwendig.
Zwei Probleme schwächen den Willen zur Aufklärung. Zum einen rüttelt die bittere Wahrheit an der Reputation der Institution. Offenlegen von Missbrauch führt zu einer Spaltung nach innen. In der Schule, der Familie oder der Gemeinde entsteht das Gefühl, selbst Opfer zu sein. Die Wut richtet sich gegen die Täter, wahlweise auch gegen die Aufklärung oder sogar gegen die Opfer. Diskretion ist ein hoher Wert, vor allem im Interesse des Opferschutzes. Wenn Diskretion im Interesse des Institutionsschutzes dazu führt, dass dem Opfer Schweigen aufgebürdet wird, setzt dies den Missbrauch fort.
Zum anderen gibt es einen angstgesteuerten "Aufklärungsfuror". Die Institution muss den Opfern mit Vertrauen entgegentreten und bereit sein, ihnen zu glauben. Andererseits kann sie nicht einfach die Unschuldsvermutung für die bezichtigte Person aussetzen. Es muss also für beide Seiten einen geschützten Raum geben, in dem Vertrauen wachsen kann. Öffentlichkeit funktioniert wie ein Pranger. Von Opferseite steht die Erfahrung im Hintergrund, dass in vielen Fällen der Aufklärungswille in der Institution erst entstand, als die Öffentlichkeit eingeschaltet wurde.
Nach der Aufklärung des Missbrauchs stellt sich die nächste Aufgabe: Hilfe für die Opfer durch seelsorgliche Angebote, durch finanzielle Unterstützung bei therapeutischer Krisenbewältigung, durch Unterstützung bei der Rückkehr in eine berufliche Existenz. Dafür wurden in den letzten Monaten Antragsverfahren entwickelt. Helfen ist in der Kirche ein vertrauter Gestus. Mancher Helfergestus ist für Opfer unerträglich, gerade weil er von kirchlicher Seite kommt.
Der Wunsch nach Hilfe verbindet sich von Opferseite her oft mit der Forderung nach Entschädigung. In den USA steigern sich diese Forderungen in astronomische Höhen und haben einige Diözesen in den Konkurs getrieben.
"Ich will zwar keine Rache, aber sie sollen bluten", schrieb ein Missbrauchsopfer an den Jesuitenorden. Das zeigt einen Mittelweg auf zwischen der Verweigerung von Entschädigung und der Einstimmung in die Selbstvernichtung: Eine vollständige Entschädigung wird nicht möglich sein, zumal auch Millionenbeträge den Opfern nicht den Seelenfrieden zurückgeben können. Die Opfer wollen, dass die Institution spürt, wie weh der Missbrauch getan hat und tut. Das ist eine Voraussetzung für die Annäherung. Wenn es gelingt, ein solches Zeichen zu finden, dann ermöglicht es Versöhnung.