Der Inselwart Michael Klamm führt auf Neßsand von einem versteckten und seltenen Gewächs des Naturschutzgebietes zum anderen.
Unvermittelt bleibt Inselwart Michael Klamm am Strand stehen. Er zeigt auf merkwürdige Grasbüschel, die sich fest an das bizarre Wurzelwerk des alten Baums klammern. Wiebelschmiele heißt das vielleicht 30 Zentimeter hohe Gewächs, erklärt Klamm. Einzigartig sei es und wachse wie auch der Schierlings-Wasserfenchel nur an den Elbufern im Hamburger Hafen: "Die beiden Pflanzen gibt sonst nirgendwo auf der Welt." Ein Frachtschiff fährt vorbei, Sekunden später schwappt die Bugwelle heran und Klamm springt auf die höhere Grasnarbe, um keine nassen Schuhe zu bekommen. Dann ist wieder Stille: die Stille eines kleinen Paradieses mitten in der Elbe.
Acht Kilometer lang und etwa 800 Meter breit ist die Inselgruppe aus Schweinesand, Neßsand und Hanskalbsand. Der Hamburger Teil ist samt der vorgelagerten Elbebucht, des Mühlenberger Lochs vor Finkenwerder, Naturschutzgebiet. Eines von elf, die Hamburg rund um den inneren Hafen ausgewiesen hat. 650 Hektar umfasst die geschützte Zone von Neßsand und Mühlenberger Loch - und ist damit fast viermal so groß wie die Hamburger Außenalster. "Betreten verboten" warnen Schilder am Strand. Klamm passt auf, dass diese Aufforderung auch ernst genommen wird. Er macht es auf die sanfte Art: In grüner Hose, grüner Jacke und mit umgehängtem Fernglas wirkt der 55-jährige Beamte der Umweltbehörde wie ein freundlicher Förster. Er spricht mit den Menschen, die hier mit Booten anlanden, überzeugt sie von der Einzigartigkeit der Insel. "Das funktioniert gut", sagt er. Er ist eine Art Teilzeit-Robinson auf Neßsand. Von Montag bis Mittwoch arbeitet er in der Verwaltung, jeden Donnerstag im Sommer fährt er mit seiner Frau Christina mit einem kleinen Boot hinüber auf die Insel. Auf einem von Wildrosen und Sanddorn umrankten Hügel, nahe am Radarturm, steht für sie eine Art Wochenendhaus. Abends, wenn der Ofen bullert und das große Wohnzimmerfenster zur nächtlichen Schiffspanoramaschau wird - dann wissen beide, dass es eine gute Entscheidung war, diese Aufgabe zu übernehmen, sagt Klamm.
Zur Aufgabe von Inselwart Klamm gehören auch Kontrollgänge ins Inselinnere. Mit seinen heutigen Besuchern geht es an den dichten Röhrichtzonen vorbei in einen Pappelwald. Sumpfdotterblumen blühen am Rand, Gräser und Blumen. In einem der hohen Bäume hat ein Seeadlerpärchen seinen Horst gebaut. "Dort oben ist das Nest", flüstert Klamm. Dann lichtet sich das Unterholz und der Blick fällt auf ein glitzerndes Schlickwatt: das Mühlenberger Loch. Vögel stelzen über den dunkelgrauen Boden. Brandgänse, Austernfischer, Möwen? Sie sind zu weit weg, um es genau zu erkennen.
Wie gemalt breiten sich hier auf der Altländer Seite der Insel der Nebenarm der Elbe und die Landschaft aus. Doch so natürlich, wie es scheint, ist hier kaum noch etwas. Die Inseln sind mit Sand aus der Fahrrinne aufgespült, und selbst die heute geschützte Bucht, das Mühlenberger Loch, wurde in den 1940er-Jahren gegraben, um eine Landebahn für Flugboote zu schaffen. Wie im gesamten Hamburger Hafen ist auch hier die Landschaft von den Menschen schon mehrmals komplett umgekrempelt worden.
Vom früheren Inselgewirr zwischen Norder- und Süderelbe ist dabei wenig geblieben. Nur die Ortsbezeichnungen im Hafen wie Steinwerder oder Waltershof erinnern noch an die früheren Inseln. Verschwunden sind die Schwimmbäder, die es neben den Werften noch um 1900 gegeben hatte. Die Fischerinsel Kattwyk nahe der heutigen Köhlbrandbrücke ist jetzt Sammelplatz für Export-Pkws. Wo einst Auenwälder standen, ragen heute die bedrohlich wirkenden Türme von Raffinerien auf. Und doch hat sich die Natur im Hafen immer wieder kleine Stückchen zurückerobert: Naturschützer verweisen auf ein Kiebitzbrutgebiet im Bereich Petroleumhafen, auf Wiebelschmiele und Wasserfenchel, die auch in manchen stillen Ecken von Hafenbecken wachsen. Auf eine Möwenkolonie an der Hohen Schaar in Wilhelmsburg und seltene Trockenrasen-Biotope auf Sandaufschüttungen. Doch vor allem die Naturschutzgebiete am Rand des Hafens legen Zeugnis darüber ab, wie die Flusslandschaft hier einmal ausgesehen hat - auch wenn diese Landschaft erst in den letzten Jahren entstanden ist. Man könnte aber auch sagen, sie ist hier wieder auferstanden.
Klamm zieht nun weiter, er will noch die künstlichen Dünen zeigen. An einer kleinen Lichtung bleibt er wieder stehen. Reste eines Fundaments sind hier zu sehen. "Hier lebte der erste Inselwart von Neßsand", sagt Klamm und erzählt die tragische Geschichte von Gerhard Japp.
Japp muss ein freiheitsliebender Mensch gewesen sein. 1940, im Alter von 20 Jahren, lehnt sich der gelernte Hamburger Schiffbauer in der Kriegsmarine gegen seine Befehlshaber auf und wird wegen Meuterei zum Tode verurteilt. Kurz vor Vollstreckung erreicht ihn die Begnadigung, er wird zum Bewährungsbataillon 500 an die Ostfront versetzt, das nur wenige überleben. Japp wird schwer verwundet. Zurück in Hamburg, entdeckt er um 1941 mit dem Paddelboot die aufgespülten Inseln. Er zieht dorthin, kann das Land nach dem Krieg pachten und baut eine neue Hütte. Japp erntet hier Reet und verkauft es. 1952 stellt Hamburg die Insel unter Naturschutz, Japp ist nun der erste Inselwart. Er lernt eine Frau kennen, die wie damals viele mit dem Paddelboot die Insel besucht. Die beiden bekommen drei Kinder und führen ein paradiesisches Leben in der Abgeschiedenheit der Insel. Bis zur Sturmflut 1962. Während Japp die ältere Tochter mit dem Boot zur Schule fährt, schlagen die Flut und der anwachsende Orkan erbarmungslos zu. Verzweifelt versucht Japp mit der Wasserschutzpolizei seine Frau und die beiden Kinder von der Insel zu holen. Erst am nächsten Tag gelingt es ihm, nach Neßsand zu gelangen, wo er seine Familie tot im Schlamm findet. Zwar heiratet Japp später wieder und kehrt mit seiner zweiten Frau zurück auf die Insel - doch von diesem Erlebnis kann er sich nicht erholen. 1973 stirbt Japp an einem Herzinfarkt.
Schweigend hört die Gruppe der Erzählung Klamms zu. Die Insel hat nicht immer Glück gebracht. Dann geht es weiter durch den Wald und über die Dünen zurück zum Strand gegenüber von Wittenbergen. Bis zur umgestürzten Pappel mit den Wiebelschmielenbüscheln. Warum sie nur hier an der Elbe in Hamburg wachsen, ist nicht bekannt. Wieder fährt ein Schiff dicht am Strand der Insel vorbei. Am Horizont leuchten die Containerterminals. Wie ferne Zeichen aus einer anderen Welt.