Auf den Schultern des Bundestrainers lastet der Erwartungsdruck einer ganzen Nation. Am Mittwoch muss seine Mannschaft gegen Ghana gewinnen.
Joachim Löw sitzt ganz alleine da. Ein Scheinwerfer ist auf ihn gerichtet. Sonst ist es dunkel in dem Veranstaltungsraum des Velmore Grande, dem Hauptquartier der Deutschen. Der Bundestrainer wartet auf seinen Einsatz.
In dem Hotel in der Nähe von Pretoria wohnt die Mannschaft während des Turniers. Ein Luxushotel, eingepflanzt mitten in der Einöde. Rechts und links nur Savanne. Es bietet perfekte Konzentration, den nationalen Traum zu erfüllen, die Fußball-Weltmeisterschaft 2010 zu gewinnen.
Nach der Niederlage gegen Serbien im zweiten Gruppenspiel ist es jetzt seine Aufgabe, die irritierten Deutschland-Fans, deren Euphorie jäh gebremst wurde, via Fernsehübertragung zu beruhigen. Er trägt eine schwarze Hose, schwarze Strickjacke, weißes Hemd, seinen typisch klassischen Look mit einer leicht intellektuellen Note. Und wie immer ist kein graues Haar weit und breit zu sehen, als er im Stile eines Bundeskanzlers zu seiner Regierungserklärung zur Lage der Nation ansetzt. "Ich bin mit einem guten Gefühl aufgewacht, weil wir trotz aller Enttäuschung aus diesem Spiel auch Selbstvertrauen gewonnen haben." Seine Hände liegen vor ihm auf dem Tisch. Er vermeidet mit ihnen zu gestikulieren, als ob das die Ruhe, die er ausstrahlen möchte, stören könnte.
Löw versucht trotz des 0:1 gegen Serbien das Positive zu betonen, weil seine Spieler in Unterzahl Kampfgeist und Moral gezeigt hätten. "Natürlich sind wir jetzt mehr unter Druck. Aber wir werden das Achtelfinale erreichen." Sätze, die typisch für Joachim Löw sind. In seiner Wortwahl ist wenig Platz für Überhöhungen.
Wie immer weiß Löw ganz genau, was er der Nation mitzuteilen hat. Heute ist er weder als Fußballlehrer oder Pädagoge seiner jungen Truppe gefragt, sondern als Repräsentant des Prinzips Hoffnung, als Motivator der öffentlichen Meinung. So akribisch, wie er sich auf den nächsten Gegner vorbereitet, plant er auch die zu setzenden verbalen Akzente. "Ich kann vor einem Elfmeter eben keine Mannschaftssitzung einberufen", versucht er dem Fehlschuss von Lukas Podolski mit Humor zu begegnen. Insgeheim würde er, der Konzepttrainer par excellence, sich aber wohl nichts lieber wünschen als Auszeiten wie beim Handball oder Basketball, um auch während der Partie noch Einfluss nehmen zu können.
Löw schafft es mit seiner ruhigen und besonnenen Analyse und seinem nie vollständig verhüllten badischen Akzent wie immer, eine entspannte, fast wohlige Atmosphäre zu erzeugen. Haben wir wirklich 0:1 gegen Serbien verloren?
Gestern, gleicher Raum, dieses Mal stellt sich DFB-Manager Oliver Bierhoff den Journalisten. Zum Befinden des Bundestrainers in diesen Tagen befragt, antwortet er. "Der Jogi ist sehr fokussiert und konzentriert, aber nicht verspannt. Intern lebt er die nötige Entschlossenheit und Sicherheit vor, er strahlt diesen festen Glauben an die Mannschaft aus."
Dabei könnte schon am Mittwoch die Ära von Löw und seinen Assistenten Hans-Dieter Flick, Andreas Köpke und auch Bierhoff Geschichte sein. Sollte die DFB-Auswahl am Mittwochabend in Johannesburg gegen Ghana den Einzug ins Achtelfinale verpassen, wäre dies ein historisches Scheitern und hätte ein freiwilliges Abdanken des Quartetts zur Folge. Schließlich war noch nie in der Geschichte des Deutschen Fußballbundes bei den 14 WM-Teilnahmen nach einer Gruppenphase Endstation, was zugleich Weltrekord bedeutet. Mit DFB-Sportdirektor Matthias Sammer aber steht längst ein möglicher Nachfolger bereit. Ein ganz anderer Charakter, der sicher den Jugendstil weiterführen würde. Doch würde der 42-Jährige auch eine Wohlfühloase schaffen, in der ein klubgeschädigter Podolski wieder zu alter Stärke findet?
Aber selbst bei einem Weiterkommen wäre Löws Zukunft beim DFB längst nicht gesichert. Im Zuge der gescheiterten Vertragsverhandlungen im Februar zwischen dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) und Löws Führungszirkel wurde viel Vertrauen zerstört. Bierhoff als Verhandlungsführer wollte für sich mehr Macht herausschlagen. Zudem sollte sich der in den vergangenen Jahren gestiegene Marktwert der Nationalmannschaft auch satt in einer neuen Gehaltsstruktur niederschlagen. DFB-Präsident Theo Zwanziger lehnte ab. Seitdem herrscht Funkstille - und bis zum Ende, wann auch immer, zählt nur das Turnier, wie Löw versichert. So würde im Achtelfinale umgehend das zweite Endspiel für Löw folgen. Jede Runde mehr verbessert seine Verhandlungssituation. Aber dass ihm nun ausgerechnet mit diesem hoch talentierten DFB-Team gegen Ghana der vorzeitige Knock-out droht, ist eine gefühlt grobe Ungerechtigkeit. Sein analytisch geprägter, unaufgeregter Führungsstil wird nicht nur bei der Mannschaft, sondern auch bundesweit geschätzt. Er will mit Argumenten überzeugen, der leicht arrogante Generalston eines Louis van Gaal ist nicht sein Stil. Während der Niederländer bereitwillig Interviews mit seiner Ehefrau gab, hält Löw das Privatleben mit Ehefrau Daniela, mit der er in Freiburg wohnt, unter Verschluss. Eine seiner Stärken ist es, Ratschläge annehmen zu können. Nur seine Kleidung besteht aus Schwarz und Weiß, seine Denkweise nicht.
Von Jürgen Klinsmann, dem gefeierten Reformator, spricht niemand mehr
Sicher, ihm fehlt die Strahlkraft eines Franz Beckenbauer oder die Volksnähe eines Rudi Völler, aber ihm glaubt man, dass er mit dem Heiligtum Nationalmannschaft seriös umgeht. Wer sogar mit "högschder Disziplin", O-Ton Löw, seinen Koffeingenuss in Maßen hält, indem er bei seinen sechs, sieben Tassen Espresso einige koffeinfreie Runden einstreut, muss als vertrauenswürdig gelten. Kleine Sünden wie das Rauchen einer Zigarette begeht er lieber im Schatten des Scheinwerferlichts. Nicht nur deshalb gilt Joachim Löw laut einer "Bild am Sonntag"-Umfrage als einer der vertrauenswürdigsten Deutschen. Vor ihm listete nur Günther Jauch, hinter ihm rangierten sogar die Altpräsidenten Richard von Weizsäcker und Horst Köhler. Fußball zu spielen und nicht zu verwalten lautet sein Credo, mit dem früheren "Grausam gespielt, aber egal, wir haben gewonnen" hat das nichts mehr zu tun. Von dem vor der WM 2006 als großer Reformator gefeierten Jürgen Klinsmann spricht heute kaum noch einer. Hat nicht auch damals schon Löw als Assistent die Taktik ausgetüftelt?
Löws Art des Handelns entspricht nicht mehr seinem früheren weichen Image, das ihm seit seiner Zeit als Cheftrainer beim VfB Stuttgart anhaftete. Denn wer vom immer beherrschten Löw auf seinen inneren Kern schließt, charakterisiert ihn nur unzureichend. Dass Löw in Südtirol auf Reinhold Messner traf, war kein Zufall. Beide verbindet die Lust auf Extremsituationen. 2003, ein Jahr bevor der Ruf des DFB kam, wollte Löw mit einem Freund den 5895 Meter hohen Kilimandscharo hochkraxeln. Mehrmals wollten sie umkehren, doch in der sechsten Nacht standen sie auf dem Gipfel. Was er von diesem Trip mitnahm, prägt ihn bis heute: "Das hat mir gezeigt, dass man das Unmögliche erreichen kann, wenn man ein Ziel vor Augen hat, an sich glaubt und geistig und körperlich an die Grenze geht."
Zu diesem Zeitpunkt hätte wohl niemand für möglich gehalten, dass Löw jemals den wichtigsten Posten in Fußball-Deutschland einnehmen darf. 2000 hatte er den Abstieg des Karlsruher SC in die Dritte Liga nicht abwenden können. Adanaspor in der Türkei, FC Tirol - immerhin gewann er 2002 mit dem Innsbrucker Klub die Meisterschaft - und Austria Wien waren keine Stationen, die auf eine weitere steile Karriere schließen ließen. Und auch beim DFB kam Löw erst als dritte Wahl ins Spiel, als Bundesliga-Trainer Ralf Rangnick keinerlei Interesse am Job des Klinsmann-Assistenten zeigte und Guido Buchwald nicht durchsetzbar war. Es ist fast ein Treppenwitz der Fußball-Geschichte, dass der damalige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder Löw 2006 nach Klinsmanns freiwilligem Abdanken zum Bundes-Jogi ernennen musste. Jener Mayer-Vorfelder, der Löw 1998 beim VfB Stuttgart in dessen Funktion als Präsident entlassen hatte, weil sich Führungsspieler gegen den Trainer aufgelehnt hatten und er selbst auch nicht allzu viel von dessen Qualitäten der Mannschaftsführung hielt. Heute wirft sich sein Nachfolger, Theo Zwanziger, vor Löws Füße fast in den Staub und fleht diesen förmlich an, die Zusammenarbeit fortzusetzen.
Und im Grunde würde auch Löw selbst nichts lieber als das. Wer diesen wütenden und leidenden Menschen am Freitag an der Seitenlinie sah, konnte erahnen, welch ein Löwenhunger nach Erfolg ihn antreibt, nach einer weiteren Korrektur seiner bisherigen Biografie, in der ihm früher die absolute Anerkennung seiner fachlichen Kompetenz fehlte. Die Vize-Europameisterschaft 2008 war nur ein erster Schritt. Wer bei einer WM ein deutsches Team zu Ruhm und Ehre führt, der bleibt für immer.
Dass seiner unsteten Karriere als Spieler mit zehn verschiedenen Stationen und als Trainer bei acht Klubs noch der große Coup fehlt, macht ihn zum Unvollendeten, stellt aber nur eine wichtige Antriebsfeder dar. Wenn der Schiedsrichter anpfeift, mutiert er zum Kampftrainer, der nach Extremsituationen lechzt. Das ist seine Welt, dort öffnet er sich, hier geraten seine Emotionen in Unordnung.
Der Verlust der Kontrolle während eines Spiels birgt für Löw aber auch Gefahren. Dann kann er seine Stärken der ausgeruhten Analyse nicht mehr einbringen. Sich wieder herauszunehmen aus dem Spiel, mit kühlem Verstand den nächsten Schachzug, die nächste Einwechslung zu überlegen, diese Eigenschaft fehlt ihm in manchen Situationen noch zum perfekten Bundestrainer. Einige seiner Personalentscheidungen waren sicher diskutabel.
Vor der WM hat sich Löw zusammen mit seinen Co-Trainern und Chefscout Urs Siegenthaler im Schwarzwald zurückgezogen und jeden Tag durchgeplant. Am Sonnabend änderte er jedoch den Dienstplan. Während Assistent Flick das Training leitete, fuhr Löw nach Rustenburg zum Spiel Ghana gegen Australien, schließlich hängt doch so viel von diesen 90 Minuten ab.
Kurz vor dem Anpfiff am Mittwoch in Soccer City in Johannesburg, dort, wo am 11. Juli das WM-Finale ausgetragen wird, wird er, seinem üblichen Ritual folgend, in sich gehen und überlegen: "Haben wir alles durchgesprochen?" Keine andere Antwort als Ja würde sich Joachim Löw zugestehen. Schon gar nicht vor seinem womöglich letzten Spiel als Bundestrainer.