Jeder zweite der mehr als 700 Hamburger Bereitschaftspolizisten ist in den vergangenen sechs Jahren im Dienst verletzt worden.
Hamburg. Mehr noch als die Zahlen bereiten die Hemmungslosigkeit der Täter und die Brutalität der Angriffe Sorgen. Krawalle und Randale - das ist die eine Seite. Die andere: Gewalt, die jederzeit und überall unvorhergesehen ausbrechen kann. Der Polizist Christian S. stoppte einen Angreifer mit tödlichen Schüssen. Er musste lernen, mit den Folgen zu leben.
Die Nacht vom 5. auf den 6. März 2009 war verhältnismäßig mild. Milder, als die Nächte jetzt, ein Jahr später. Aber natürlich war es noch winterlich. Christian S., damals 35 und Polizeihauptmeister auf der Davidwache, saß am Lenkrad des Streifenwagens Peter 15/2. Bei ihm eine Praktikantin und eine Kollegin. Ihr Wagen rollte über den Holstenkamp, als der Funkspruch sie erreichte: Ein Mann habe über Notruf angekündigt, sich und alle anderen umzubringen. Man möge die Lage vor Ort überprüfen. Die Adresse: Hamburger Hochstraße, Hausnummer 4, 3. Stock. Der Name des Anrufers: Sven B., 24. Bis dahin kein ungewöhnlicher Einsatz für S., Polizist seit bereits neun Jahren.
Wenig später jedoch gab es keine Routine mehr. Nichts war mehr sicher. Sven B. griff den Beamten mit einem Fleischermesser an. Der Polizist schoss - und tötete den Mann. Seitdem versucht er, mit den Folgen des tödlichen Einsatzes zu leben.
Gestern berichtete er darüber vor Kollegen auf der Tagung "Gewalt gegen Polizeibeamte" der Polizeigewerkschaft DPolG.
Wegen der angekündigten Bewaffnung waren S. und seine Kollegin an jenem Abend mit gezogenen Pistolen durch das Treppenhaus nach oben gegangen. Als sie die Tür des 24-Jährigen erreichten, klopften sie - und zogen sich etwas zurück. Nichts tat sich, sie klopften erneut und hörten ein Geräusch. Die Praktikantin ging die Treppe hinunter. Sie war unbewaffnet. Die Polizistin wartete auf der Treppe, S. stand versetzt vor ihr. Der Polizist: "Plötzlich riss jemand die Tür auf. Ein Mann kam mit einem Fleischermesser auf uns zugestürzt. Er hatte es über den Kopf erhoben. Wie in einem schlechten Horrorfilm." An die Sekundenbruchteile, die dann folgten, erinnert sich Christian S., so sagt er, als lägen sie hinter einem Schleier. Er habe die Waffe auf den Mann gerichtet. Und offenbar geschossen. Danach habe er auf die Waffe geblickt und realisiert, dass er sich nicht in einem Albtraum befand. Seine Kollegin und er riefen Notarzt und Kollegen. Beamte seiner Wache hätten ihn nach unten geleitet, erinnert sich der Beamte.
Dabei habe er sie noch auf das Messer hingewiesen, das dort im Flur lag. "Ich wollte sichergehen, dass sie das nicht übersehen. Es war doch die Waffe, mit der wir angegriffen wurden", sagt S. Man fuhr ihn zur Davidwache, zog sich dort zurück. S. wollte nicht viel reden. 1000 Gedanken kamen gleichzeitig. Angst, vor Gericht zu müssen, Angst um die berufliche Zukunft, die Frage, wie er all dies der Familie sagen könne. Der Chef der Wache kam zu ihm, der Polizeiseelsorger, jemand vom Personalrat. Spurensicherer, die Schmauch an seinen Händen sicherten, die Mordkommission. Im Laufe des Abends teilte man Christian S. mit, dass die Ärzte einen einstündigen Kampf um das Leben des Sven B. verloren hatten, dass er achtmal geschossen und viermal getroffen hatte. Und dass der komplette Einsatz auf Band festgehalten war: Sven B. hatte den Hörer nicht eingehängt. Ein Beamter in der Einsatzzentrale hörte das Klopfen an der Tür durch das Telefon. Dann sagte Sven B.: "Jetzt kannst du zuhören, wie ich die Bullen absteche."
"Die Traurigkeit", erinnert sich Christian S., die sei bei ihm später gekommen: "Immerhin habe ich einen jungen Mann getötet." Am darauf folgenden Tag sei er wieder zur Arbeit gegangen. Die Sekundenbruchteile, in denen er einen Mann erschoss, durchlebte er jedoch immer wieder. "Ich bin mit den Bildern eingeschlafen und aufgewacht", sagt S. "Und ich habe mich geändert. Freunde sagen, dass ich reizbarer wurde und zeitweise gleichgültig gegenüber den Problemen anderer." Er träumte, wie er einen Tankwart für ein Überraschungsei erschoss, und dass Sven B. ihn niedersticht. Bis Dezember 2009 ließ der Hauptmeister sich seelsorgerisch betreuen. Die Angst, sagt er, hat er im Griff. "Ich betrachte es als Geschenk, dass ich wieder normal arbeiten kann", sagt Christian S. "Viele andere, die so etwas erlebt haben, können das nie wieder." Die Polizei geht davon aus, dass Sven B. seinen Tod durch eine Polizeiwaffe plante.