Fußgänger und Radfahrer müssen an vielen Stellen auf die Straßen ausweichen, weil ihre Wege vereist sind. Grund: vor allem Geldmangel.
Hamburg. Den rechten Fuß am Boden, den linken auf der Pedale, schlittert Dirk Lau mit seinem Fahrrad den Weidenstieg entlang. "Ich bin relativ versiert, was das Fahrradfahren angeht, aber die Nebenstraßen sind total vereist. Es ist ein Skandal, dass die Radwege nicht gestreut werden", sagt der Vorsitzende des Hamburger ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrradclub). "Und wenn ich auf die Straße ausweiche, fangen die Autofahrer an zu hupen."
Den Fußgängern in der Hansestadt geht es nicht besser: Viele öffentliche Wege, sogar Bushaltestellen und U-Bahn-Zugänge sind komplett vereist, weil die Bezirke nicht auf solch einen Winter vorbereitet sind und ihrer Streupflicht häufig nicht mehr nachkommen. Der Grund: Das Geld fehlt.
"Ich muss häufig mit dem Fahrradanhänger und zwei kleinen Kindern fahren, ein Auto habe ich nicht. Das ist eine Vollkatastrophe", sagt Julia Niehaus aus St. Pauli. "Zumindest die wichtigsten Radwege, zum Beispiel an der Feldstraße, hätte man streuen können." Ist der Radweg entlang einer Straße nicht von Eis und Schnee geräumt, dürfen Fahrradfahrer die Straße benutzen. "Mit zwei Kindern im Anhänger ist mir das aber viel zu gefährlich", sagt Julia Niehaus. Dirk Lau vom ADFC fühlt sich von der "Umwelthauptstadt" im Stich gelassen: "Hamburg will sich Green Capital nennen. Dazu passt es überhaupt nicht, die Radfahrer dermaßen zu benachteiligen."
Die Stadtreinigung ist dafür zuständig, lediglich die Hauptverkehrsstraßen freizuräumen und zu streuen. "Für Radwege bleibt keine Zeit. Unsere Hauptaufgabe ist es, den öffentlichen Nahverkehr aufrecht zu erhalten", sagt Pressesprecher Reinhard Fiedler. Nur die Veloroute 3 von Lokstedt ins Univiertel am Grindel und die sogenannten fahrbahnbegleitenden Radwege am Mittelweg und an der Grindelallee werden frei gehalten. Fiedler: "Würden wir uns auch noch um die Radwege kümmern, wären das Mehrkosten in Millionenhöhe." Zum Vergleich: In Kiel werden die Haupt-Fahrradwege mit Sand gestreut. "Kiel hat sich die Förderung des Fahrradverkehrs auf die Fahne geschrieben. Das gilt natürlich auch im Winter", so Arne Gloy von der Stadt Kiel.
Nicht nur Hamburgs Radfahrer, vor allem auch die Fußgänger müssen sich über vereiste Wege und Plätze kämpfen: "Ich halte mich an meinem Gehwagen fest, damit ich weniger rutsche", sagt Horst Hodemacher. Ganz vorsichtig setzt der 84-Jährige einen Schritt vor den anderen in der Fußgängerzone am Niendorfer Markt. Der strenge Frost der vergangenen Tage hat den Schnee festfrieren lassen, die Mitte des Weges ist eine einzige Eisfläche. Nur vor den Geschäften haben die Inhaber einen ein Meter breiten Streifen geräumt. "Ich finde das verantwortungslos. Die Menschen wechseln doch mal auf die andere Seite, und dann rutschen sie", sagt Bärbel Stasinopoulus (65), Angestellte im Schreibwarenladen "Steckenpferd". Niendorf ist nur ein Beispiel von vielen.
Auch in anderen Stadtteilen sind die Wege mit Eis bedeckt, etwa im Altonaer Gählerpark, rund um den Bahnhof Dammtor oder auf der Deelbögebrücke über die Alster. Andrea Hammerschlag (47) aus Heimfeld ärgert sich darüber, dass der Bereich rund um die S-Bahn-Station Heimfeld völlig vereist ist. Der Bezirk Harburg hat die Räumarbeiten an einen Dienstleister abgegeben. "Die kommen offenbar mit dem Räumen nicht hinterher", so Hammerschlag. "Doch wenn man eine Dienstleistung anbietet, muss man sie auch leisten." Bezirkssprecherin Beatrice Göhring reagierte, sagte dem Abendblatt, die Gebiete rund um die Haltestellen hätten jetzt Priorität.
Das Hamburgische Wegegesetz lässt den Bezirken eine Hintertür offen: Denn dort steht, dass der Bezirk nur "nach besten Kräften" räumen muss. Im Klartext: Was er nicht schafft, schafft er nicht. Und so werden Plätze meist nicht komplett geräumt, sondern - wenn überhaupt - Wege ins Eis geschlagen. "Wir haben zu wenig Geld", sagt Reinhard Buff, Baudezernent im Bezirk Eimsbüttel. Deshalb bleibt der Zugang zur U-Bahn am Tibarg in Niendorf auch völlig vereist. "Wir müssten die Gelder hochfahren und nicht so wie jetzt darauf hoffen, dass es mit Eis und Schnee einfach wieder aufhört." In vielen Fällen sind sich Anlieger, Bezirk, Stadtreinigung und Hochbahn auch noch uneins darüber, wer räumen muss. "Das ist ein hamburgweites Problem, das nach Koordinierung ruft", so Buff. Am Niendorfer Markt wird nur das Nötigste getan: Die Ladenbesitzer räumen vorschriftsmäßig einen Meter breit vor ihren Geschäften, die Hochbahn einen Meter um die U-Bahn-Haltestelle - und die vom Bezirk beauftragten Firmen sind überlastet.
München hat die Schneemassen besser im Griff: Die Straßenreinigung räumt und streut alle Gehwege in der Innenstadt - nicht die Anlieger. Die müssen dafür allerdings Gebühren zahlen. In Hamburg spüren jetzt auch die Ärzte die Folgen der Glätte. "Die Zentrale Notaufnahme versorgt deutlich mehr unfallchirurgische Patienten als an anderen Tagen", sagt Christine Jähn, stellvertretende Sprecherin des Uniklinikums Eppendorf.
Damit nicht noch mehr Eisunfälle passieren, wollen sich die Ladeninhaber am Niendorfer Markt nicht mehr auf den Bezirk verlassen. Sie wollen einen eigenen Winterdienst engagieren - im nächsten Winter.