Mieten sind bereits so hoch wie in Eppendorf: St. Paulianer fürchten um einzigartigen Charakter des Viertels und formieren sich zum Widerstand.
Hamburg. Diese Geschichte beginnt im Park Fiction. Denn Park Fiction ist St. Pauli. Die kleine Parkanlage am Rande des Stadtteils mit Blick auf die Elbe, gegenüber von Dock 10, zieht alle an: die Herumstreuner, die Studenten, die am Hein-Köllisch-Platz wohnen, die Mütter mit ihren Kindern. Und junge oder gar nicht mehr so junge Nachtschwärmer, die müde sind und sich von der letzten Party erholen. Nebenan ist der Pudel Club. In einer Broschüre wirbt der Bezirk Mitte mit diesem schönen Fleckchen, dabei hatte er sich zunächst gegen seine Realisierung gesträubt. Es gab einen Bebauungsplan, vielleicht stünde hier jetzt ein Hochhaus, ein Betonriese. Anwohner und Künstler verhinderten das damals, mittlerweile ist der Bezirk stolz drauf.
Ilona Wöbke wohnt nicht mehr auf St. Pauli. Sie konnte sich ihre Wohnung nicht mehr leisten. Seit ihrer Jugend hatte sie hier gelebt, zuletzt 20 Jahre in der Hamburger Hochstraße."Das war mein Zuhause, hier habe ich meine Kinder großgezogen." Dann habe das Elend begonnen. "Nur der Profit ist wichtig, die Menschen bleiben auf der Strecke." Früher, da sei es hier um Freundschaft und Zusammengehörigkeitsgefühl gegangen, lange ist es her.
Jetzt bekommt sie Hartz IV. Eine Altbauwohnung kann man damit nicht bezahlen. Und eine neue Wohnung auf St. Pauli schon gar nicht. Der Zug ist abgefahren, sagt IlonaWöbke, die jetzt in Eimsbüttel wohnt. Sie lacht bitter. Und steckt sich eine Zigarette an.
1994 kosteten Wohnungen bei Neuvermietungen 7,70 Euro pro Quadratmeter, 2008 sind es 11,40 Euro. Der Hamburger Durchschnitt liegt mit 9,75 Euro pro Quadratmeter deutlich darunter. Stadtplaner sprechen von "sozialer Aufwertung" eines Quartiers, wenn sie neue Bevölkerungsschichten gewinnen wollen. Die, die daran verdienen, sind vor allem die Investoren, die Immobilienbesitzer, die bei finanzkräftigen Neu-St.-Paulianern entsprechende Mieten verlangen können. St. Pauli soll Trendviertel werden: Nähe zum Hafen, Gründerzeithäuser, Bürobauten, Kulturstätten, es ist alles da, was einen Stadtteil attraktiv und lebenswert macht.
Aber sie wehren sich, die St. Paulianer, immer noch und immer wieder. Gegen die "Eindringlinge", die sich ihrer öffentlichen Plätze und privater Wohnungen bemächtigen. Gegen die, die sie, so glauben sie, aus ihrem Stadtteil vertreiben wollen, um einen schickes Wohlfühlquartier aus ihm zu machen. Mit dezent verruchter Atmosphäre, ein bisschen Rotlicht; eine Touristenattraktion für die, die mal schauen, sich aber nicht schmutzig machen wollen. An die Wände werden Parolen gesprüht: "St. Pauli gehört uns", "Eine Stadt ist keine Marke". An Stromkästen und Laternen kleben Sticker: "Ein Widerstand kann funktionieren. Das freut mich sehr." Dies ist ein Zitat aus einem Film, der seit einigen Monaten auf St. Pauli gezeigt wird. "Empire St. Pauli" heißt er; er dreht sich um den Ausverkauf St. Paulis. Alle kommen sie zu Wort: die Bewohner und überzeugten St. Paulianer, die Politiker, die Saga-Leute. Es gibt Szenen mit Managern des Baukonzerns Strabag, bei denen man nicht weiß, ob sie arglos oder hinterfotzig sind, und eloquenten Jünglingen, die bei einem Großinvestor angestellt sind und mit großer Pose ein Bild "ihres" St. Pauli entwerfen. "Wir wollten zeigen, was zurzeit hier passiert", sagt Filmemacher Olaf Sobczak. Er hat zusammen mit Irene Bude und Steffen Jörg anderthalb Jahre an dem Projekt gearbeitet, das auch vom Bezirksamt Hamburg-Mitte gefördert wurde. Der 40-Jährige hat lange gespürt, dass der berühmte Stadtteil, der jenseits seiner sündigen Meile auch ein ganz normales Wohnquartier ist, seinen ursprünglichen Charakter verliert, dass sich auf St. Pauli Unmut regt. "Jetzt sind wir auf einem Höhepunkt des Widerstandes angekommen", sagt Sobczak.
Durch etliche Großprojekte wird St. Pauli umgebaut, der Hafen hat mit Astra-Turm, Riverside-Hotel und Atlantic-Haus bereits eine neue "Krone" bekommen. Der Spielbudenplatz ist kein öffentlicher Platz mehr, und der Schlager-Move wälzt sich einmal im Jahr über die Reeperbahn. Pudel-Club-Betreiber Rocko Schamoni sagt: "Alles, was dumm und scheiße ist, findet mittlerweile hier statt, direkt hier."
St. Pauli, das ist für die Eingeborenen und die, die schon lange da leben, eben nicht kommerzialisierte Bespaßung, sondern Heimat, Subkultur, Ausgehen, Freiheit, Durchmischung. Lange wurde St. Pauli mit Rotlicht und billigem Wohnraum in Verbindung gebracht. Letzteres zog auch Künstler an. Künstler wie Christoph Schäfer, der 1984 aus dem Ruhrgebiet nach Hamburg kam. Oder Sandra Trostel, die vor 13 Jahren aus Schwaben an die Elbe zog. Beide wohnen in der Bernhard-Nocht-Straße. Das ist die Straße, um die zurzeit besonders heftig gerungen wird. Das Riverside-Hotel, das zum Immobilien-Imperium Willi Bartels' gehört, steht an dieser Straße. Ein mondänes Luxusgebäude, das die gesamte Straße aufwerten soll. Mit dem Resultat, dass in unmittelbarer Nachbarschaft die Mieten schon kräftig gestiegen sind. Martin Klingner ist Rechtsanwalt und vertritt die dortigen Mieter, er behauptet: "Die Mieten werden angehoben, gerade bei Neuwohnungen wird extrem zugeschlagen."
Wer aber seine Wohnung verliert, der findet auf St. Pauli keine neue mehr, die er sich leisten kann. Der Künstler Christoph Schäfer fordert den Bau von Sozialwohnungen. "Der Stadtteil soll kreativ sein, damit brüstet sich die Politik ja immer. Wenn die Entwicklung auf St. Pauli anhält, werden noch mehr Künstler nach Berlin abwandern."
Sandra Trostel, eine schlanke und attraktive 33-Jährige, spricht mit weichem süddeutschem Akzent, sie erklärt: "Hier leben Individualisten und Familien, und 40 Prozent der Menschen haben wenig Geld."
Trostel hat in der Bernhard-Nocht-Straße Interviews mit den Anwohnern geführt. Sozusagen als Arbeitsgrundlage für das Interessenbündnis "NoBNQ" (Kein Bernhard-Nocht-Quartier), das die Pläne des Investors verhindern will. 90 Prozent der Mieter, sagt Trostel, hätten mitgemacht, "sie alle sind in Sorge, Mieterhöhungen kann sich niemand leisten." An diesem Sonnabend ist Bezirksversammlung in der Bernhard-Nocht-Straße. Keine mit Politikern, sondern eine nach St.-Pauli-Art: mit Aktionen, Konzerten, Kinder-trinken-umsonst-Ständen, Grillen gegen Gentrifizierung.
Gentrifizierung ist das Stichwort: Der Ausdruck wird von Soziologen und Politikern verwendet, er bezeichnet die Vertreibung der Alteingesessenen und den Bewohnerwechsel von Arbeitern und Armen hin zu Besserverdienenden. Die Politik hat das Problem erkannt. "In St. Pauli ist vieles besser geworden", findet Michel Osterburg, Chef der GAL-Fraktion in Hamburg-Mitte, "durch manche Projekte ist der Stadtteil lebenswerter geworden." Aber es müsse auch für Ältere und Ärmere möglich sein, eine Wohnung zu bezahlen. In St. Georg sei es zu spät, die Mieten in einem bestimmten Rahmen zu halten, "für St. Pauli gilt das noch nicht".
Deshalb soll nach dem Willen der GAL, die im Bezirk mit der SPD regiert, jetzt Schluss sein mit weiteren Bürobauten und hochpreisigen Wohnungen. Den Investor für das Bernhard-Nocht-Quartier hat die Bezirksversammlung trotzdem freudig begrüßt. "Er will dort behutsam vorgehen und niemanden vertreiben", glaubt Osterburg. "Und wir erwarten von dem Investor, dass er in einer Informationsveranstaltung den Anwohnern seine Pläne vorstellt."
Apropos: Die sind nur durch Zufall an ein Sitzungsprotokoll - Teilnehmer: Bezirkspolitiker und Investor - geraten, in dem diese ersten Pläne vage beschrieben werden. Mindestens ein Haus soll ganz abgerissen, andere sollen kernsaniert werden. Und bei einer Mieterin ist die Miete bereits erhöht worden. Kein Wunder, dass manche gereizt sind: An einem heißen Abend im Juli stellten sich im Bezirksamt in der Simon-von-Utrecht-Straße Osterburg, Andy Grote (Chef der SPD in St. Pauli) und Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) den Fragen des Auditoriums. Das bestand aus Bewohnern von Hafen- und Bernhard-Nocht-Straße. Entsprechend hoch her ging es im Bezirksamt. Vertrauen in die Politik haben die St. Paulianer nämlich überhaupt nicht.
Michael Osterburg, Wirtschaftsingenieur aus Billstedt, hegt als GALier große Sympathien für das Bürgerengagement, sagt aber auch: "Die sehen das zu einseitig." Nach der Kritik müssten jetzt konstruktive Vorschläge kommen. "Es geht darum, in St. Pauli Wohnungen zu schaffen - eben auch mit Investoren." Außerdem müssten Wohnungsbaugenossenschaften und Baugemeinschaften ins Boot geholt werden.
Und während der Film "Empire St. Pauli" durch die Kneipen und über die Plätze wandert - zur Vorführung im Park Fiction kamen 1200 Leute -, sagt Köhler & von Bargen, der Investor in der Bernhard-Nocht-Straße, erst mal gar nichts; auf eine diesbezügliche Anfrage des Hamburger Abendblatts gab es keine Antwort. Rosi Samac, Betreiberin der Holstenschwemme an der Herrenweide, hat ihre dafür umso schneller parat: "Die würden St. Pauli ausverkaufen, wir sind denen egal." Samac, 61 Jahre alt und fünffache Mutter, ist eine barocke Erscheinung mit modischer Brille. Millionärin, sagt sie, werde sie nicht mehr - "bei mir kostet das Astra 1,50 Euro". Ihre Gäste, viele leben von Hartz IV oder von wenig Rente, kommen mit ihren Sorgen und Nöten zu ihr. Und als im vergangenen Jahr die Holstenschwemme zumachen musste, weil Schwemmsand das Haus, in dem sie sich befand, einzureißen drohte, war der Kummer ihrer Stammkunden groß. So groß, dass sie, nur eine Ecke weiter, die Kneipe neu aufbauten. Samac bezahlte nur die Materialkosten, jetzt steht sie wieder hinter ihrer Theke, zapft Holsten Edel. Auf dem großen Bildschirm laufen die Spiele des FC St. Pauli, wenn es sein muss, auch die des HSV. Es ist alles gleich geblieben in der Holstenschwemme, nur die Adresse ist eine andere. Sonst bleibt überhaupt nichts so, wie es ist. "Das soll hier alles Schickimicki werden, es geht nur noch um die Oberfläche." Nebenan, in der Trommelstraße, setzte die Saga einen neuen Wohnkomplex hin. Mit dem Restaurant Esskultur im Erdgeschoss, das aber mittlerweile schon wieder dichtgemacht hat. "Allein der Name war schon eine Frechheit", sagt Samac.
"Es regnet Kaviar", sagen die Leute vom Aktionsnetzwerk gegen Gentrification dazu, wenn der Kiez wieder mal szenig veredelt werden soll.
Es soll Exklusivität hergestellt werden in ihrem Stadtteil, sagen die St. Paulianer. Eine Exklusivität, die sie ausschließt. Wenn man im Copperhouse in der Davidstraße sitzt, kann man gut essen und gleichzeitig einen Blick durch das große Frontfenster werfen. Dort fahren Polizeiwagen lang, es schlendern Touristen, urige oder raue St. Paulianer und gern auch mal eine Prostituierte vorbei. Man hat alles im Blick, wie im Fernsehen.
Die St. Paulianer selbst gehen im Copperhouse nie essen.