St. Pauli: 25 Jahre an der Elbe - die Bewohner feiern am Wochenende ein großes Fest. Heute wohnt in den Häusern eine spannende Mischung aus Studenten, Müßiggängern, Eigenbrödlern und Alternativen.

Touristen tuscheln aufgeregt und recken die Köpfe: An den schillernd bunten Außenwänden der einstmals illegal besetzten Gründerzeithäuser in der Hafenstraße hat sich wenig geändert - am unorthodoxen Typus der Bewohner auch nicht. Graffiti und Spontisprüche erregen Aufsehen; ketzerische Bürgerkriegsparolen jedoch sind längst übertüncht. Und richtige Randale hat es seit Jahren nicht mehr gegeben. "Das ist mittlerweile eine ganz normale Wohnbevölkerung", sagt Wolfgang Weidemann, Chef der Davidwache. "Wir haben gute Kontakte; Scherereien gibt es nicht."

Auf der Balduintreppe, vor bald zwei Jahrzehnten Zentrum massiver Straßenschlachten, dösen Punker in der Septembersonne - bis ihre Stammpinte Onkel Otto an der Ecke die Holzpforte öffnet. Oben, in der Bernhard-Nocht-Straße, parken Mittelklassewagen, vor der "Kogge" nippen junge Leute an Milchcafe und Limonade. Spätsommerliche Idylle am Rande St. Paulis.

Unten, vor der Kneipe "Ahoi" und den inzwischen legal vermieteten Häusern, herrscht emsiges Gewusel; es wird geschweißt, gemalt, gezimmert. Männer in blauen Monteursanzügen wieseln umher, zwei schwarz gekleidete Frauen mit Springerstiefeln schleppen Holzbretter. In einem Fenster hängt eine Che-Guevara-Flagge, die Balkons darüber sind mit Blumentöpfen geschmückt. Alles soll - den Umständen entsprechend - nett hergerichtet sein, wenn übermorgen das Festprogramm "25 Jahre Hafenstraße" beginnt. Es wird ein Wiedersehen mit alten Kämpfern, Unterhaltung mit den Bewohnern von heute, Musik, Kultur, Arbeitsgruppen und Klönschnack geben.

Sitzbänke im wild wuchernden Grünstreifen zwischen Bürgersteig und Hafenstraße dienen der Rast nach schweißtreibender Anstrengung - auch ein Grill steht bereit. Es handelt sich um ein eisernes Kunstwerk, eine Badewanne, in der Würstchen geröstet werden.

Einige Meter weiter, vor dem Haus mit der Nummer 120, sitzt Michael Hollenbeck (55) im Eingang seines hölzernen Wohnwagens und genießt das Toben der Kinder. Sein Onkel, Fritz Hollenbeck, schauspielerte einst am Ohnsorg-Theater, Neffe Michael lebt seine Vorstellung von Individualismus aus. Seit zehn Jahren Bestandteil der Hafenstraßen-Szene, bereichert er das Bild der Paradiesvögel, Müßiggänger, Eigenbrödler oder alternativen Geister. "Ich liebe die Freiheit in Hamburg und die herzliche Nachbarschaft in der Hafenstraße", meint Hollenbeck. Seine Lebenseinstellung und seine Marotten würden respektiert. Mit Vorliebe radelt er durch die Hansestadt und frönt seiner Leidenschaft, der Stadtgeschichte. Einmal in der Woche, immer sonnabends, geht's zur Körperpflege und Sauna nach Blankenese.

Gerade zeigt Hollenbeck Bett, Kochgelegenheit und Fahrradstellplatz in seinem zwei mal drei Meter kleinen, selbst gebauten Wohnwagen, da kommt eine ältere Dame mit praller Einkaufstasche des Weges: Brigitte Jakatzki (78), seit November 1956 wohnhaft in der Hafenstraße 112, dem einzigen niemals besetzten Haus inmitten der Reihe. Bis 1978 betrieb sie dort eine Schneiderei mit fünf Angestellten, mit den Nachbarn verstehe sie sich exzellent.

"Die Jungs trugen mir früher Kohlen hoch", berichtet sie in ihrem Wohnzimmer mit traumhaftem Blick auf die Elbe und Blohm + Voss. Heute bezieht sie Fernwärme. Ein kleines Schwätzchen gehört zum Alltag. Damals wie heute. An den Wänden hängen handgefertigte Messingbilder sowie Erinnerungsfotos an den gestorbenen Ehemann, einen Barkassenkapitän. Auf einer Kommode steht ein selbst gebasteltes Modell der "Titanic". Hamburgischer geht's nicht.

Den etwas anderen Nachbarn hilft Frau Jakatzki mit den Pluspunkten eines gut ausgerüsteten Haushalts. Etwa mit einem Gemüseschäler, wenn mal wieder Kochtag ist vor der Gemeinschaftskantine mit dem urigen Namen "Volxküche". Früher brodelten hier Widerstandspläne, heute tagt jeweils am ersten Dienstag des Monats ganz demokratisch das "Plenum" als höchstes Gremium der Mietergemeinschaft. Zweimal in der Woche wird richtig aufgetischt, vegetarisch und vegan. Bezahlt wird je nach Vermögen. Zurzeit ist Jànos dran, morgens die Frühstücksbrötchen zu schmieren.

Der Rockmusiker und Künstler, vor 54 Jahren in Ungarn geboren, reist freischaffend durch die Lande und macht seit Anfang der 80er-Jahre regelmäßig Station in der Hafenstraße: "Ich bleibe nach Lust und Laune und wohne bei Freunden." Aus derzeit drei Monaten können durchaus mehr werden. Abwarten. Am Wochenende hilft der Buddhist und Pazifist beim Fest, zudem bietet er am Wochenende jeweils von 15 bis 17 Uhr Trommelkurse mit Akzent auf Rhythmus und Körperbeherrschung. Die Gewaltbereitschaft vergangener Tage erklärt er mit dem damaligen Zeitgeist und der Jugend vieler Bewohner: "Das waren doch noch Kinder."

"Von den Besetzern aus den Anfangszeiten 1981 wohnen hier noch maximal zehn", meint ein junger Mann mit rotem T-Shirt und schwarzem Barett. Er zählt zu der großen Fraktion der Studenten, die in Wohngemeinschaften leben und oft wechseln. Eine 60 Quadratmeter große Vierzimmerwohnung kostet 380 Euro warm. Das bunte Völkchen wird von Handwerkern, Ingenieuren, Kellnern, aber auch arbeitslosen Paradiesvögeln abgerundet. Fast alle, so sagt er, wollen in Frieden und nach ihrer Façon leben. Der Politisierungsgrad sei gering. Auch das war einmal anders.

Zwei Dutzend der rund 120 Hafenstraßen-Bewohner sind Kinder. Jake (34), Professorentochter aus Winterhude, lebt mit ihren Töchtern Florencia (7) und Jannika (5) zusammen. "Ich liebe die Lebensweise nach meinen persönlichen Vorstellungen", sagt sie in ihrer Wohnung im zweiten Stock.

Fröhlich, lebensbejahend und unkompliziert geht es zu. "Die Leute hier sind sehr unterschiedlich. Nicht alles ist Friede, Freude, Eierkuchen. Aber es funktioniert!" Jake kennt fast jeden Nachbarn, in der Regel seien Kontakte und Hilfsbereitschaft groß. Sie baut darauf, dass eines Tages ihre Kinder zu jenen gehören, die das Projekt weiterführen und ihm Zukunft geben.

Auf dem Grünstreifen vor der Haustür diskutieren die Festorganisatoren ihre Planung. Da zischt ein Junge auf seinem grünen Bobbycar heran. "Halt, Polizei!", ruft er mit energischer Stimme. "Ihr seid verhaftet." - "Hol erst mal die Handschellen", entgegnet Claus. Der Buttje braust davon. Alle lachen.

Wer hätte das gedacht!