Trauma: Christine Gehse ist mit Leib und Seele Polizistin - an den Eindrücken eines Einsatzes wäre sie fast zerbrochen. Bilder eines Verkehrsunfalls ließen sie nicht mehr los. Die junge Polizeimeisterin schildert im Abendblatt, wie sie mit Hilfe von Psychologen, Angehörigen und Kollegen wieder in den Beruf fand.

"Eine 55 Jahre alte Fahrradfahrerin kam am Dienstag ums Leben, als sie auf dem Radweg an der Hamburger Straße mit einem Radfahrer kollidierte, anschließend auf die Fahrbahn fiel und dort von einem Lkw überrollt wurde."

So lautete die nüchterne Pressemitteilung, die am nächsten Tag in den Zeitungen erschien. Tatsächlich aber sollte dieser Verkehrsunfall mein Leben gehörig durcheinanderbringen.

Es war ein ganz normaler Frühlingstag, an dem ich mit meinem Kollegen "Walli" auf dem Streifenwagen Peter 2/22 in der Innenstadt eingesetzt war. Mitten in diesem ruhigen Spätdienst geschah der tödliche Verkehrsunfall, bei dem der Kopf der Fahrradfahrerin von einem Zwillingsreifen überrollt wurde. Wir waren zur Sicherung des Unfallortes eingesetzt, direkt an der Unfallstelle.

Während des Einsatzes funktionierte ich perfekt. Ich ließ die Bilder der gräßlichen Szenerie nicht zu dicht an mich heran. Ich habe meine Arbeit ohne Probleme ausgeführt. Das hin und wieder auftretende mulmige Gefühl habe ich erfolgreich heruntergeschluckt. Die Kollegen des zuständigen Polizeikommissariats boten uns an, im Anschluß an den Einsatz auf einen Kaffee zu kommen. Kurze Zeit später saßen wir vor dem dampfenden Kaffee, der die Lebensgeister zurückbrachte und ein wenig Normalität einkehren ließ. Der Schleier der Betroffenheit, das ungute Gefühl, verschwand langsam. Als "harte Bullen", die wir waren, klopften wir uns in Gedanken gegenseitig auf die Schultern und kehrten schließlich zurück zum Alltag.

Einige Stunden später, den Feierabend vor Augen, sind meine Schutzmechanismen dann zusammengebrochen. Ich erlitt einen Weinkrampf, war völlig aufgelöst und konnte mich nicht beruhigen. Die ganze Situation überforderte mich, ich habe versucht, mich gegen meine Empfindungen zur Wehr zu setzen. Es gelang mir nicht, ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich erklärte mich auf Vorschlag eines Kollegen bereit, die Hilfe des Kriseninterventionsteams (KIT) in Anspruch zu nehmen.

Kurze Zeit später saßen der katholische Seelsorger Peter Meinke, mein Zugführer, mein Kollege "Walli" und ich beisammen. Ich war innerlich immer noch sehr aufgewühlt, konnte mir nicht vorstellen, wie mir Herr Meinke helfen sollte. Wir sprachen über das Geschehene, das Erlebte und tauschten Gedanken und Empfindungen aus. Irgendwann hatte ich mich soweit beruhigt, daß ich den Heimweg antreten konnte. Herr Meinke nahm mich noch ein Stück mit und bot mir seine Unterstützung an. Ich solle mich ruhig bei ihm melden, wenn es mir schlecht ginge, egal, zu welcher Zeit. Ich war dankbar für das Angebot, wollte aber vorerst nur meine Ruhe haben.

Bereits zu diesem Zeitpunkt dachte ich, daß ich allein damit zurechtkommen müßte.

Die folgenden Tage waren geprägt von innerer Haltlosigkeit, Trauer, Niedergeschlagenheit und emotionaler Taubheit in einer mir bis dahin unbekannten Dimension. Mein Verhalten und meine Empfindungen waren mir völlig fremd, ich erkannte mich nicht wieder. Ich litt unter Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und depressiven Verstimmungen, war unruhig und nervös. Ich durchlebte extreme Stimmungsschwankungen, konnte mich zu nichts motivieren. Am Schlimmsten waren jedoch die immer wiederkehrenden Bilder und Erinnerungen. Sie begleiteten mich 24 Stunden am Tag.

Ständig hatte ich das Bild der Frau vor mir, konnte sogar das Blut riechen, ohne das ich irgend etwas dagegen hätte unternehmen können. Meine Nerven lagen blank.

Trotzdem machte ich weiter Dienst wie bisher. Ich befürchtete, komplett den Halt zu verlieren, wenn auch das letzte Stück Normalität verschwindet und ich mit meiner Seelenqual allein sein würde. Ich hatte das Bedürfnis, 24 Stunden am Tag mit den Kollegen zu verbringen. Dort lief das Leben seinen normalen Gang. Wenn ich dann jedoch mit ihnen zusammen war, konnte ich ihre Nähe nicht ertragen. Der einzige, den ich zu dieser Zeit in meiner Nähe duldete, war "Walli". Ich heftete mich an seine Fersen und verrichtete die folgenden Dienste nur mit ihm.

Die durchwachten Nächte und die Appetitlosigkeit blieben nicht ohne Spuren. Ich war am Ende meiner Kraft. Trotzdem lief ich ständig auf Hochtouren, mein Körper befand sich in einem Zustand permanenter Alarmbereitschaft. Ich versuchte, mich durch Sport abzulenken und durch übermäßigen Alkoholkonsum das Leben auf Distanz zu halten. Ich mobilisierte meine letzten Reserven.

Schließlich nahm mich mein Zugführer beiseite und legte mir nahe, erneut Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich erklärte mich bereit zu einem Treffen mit dem evangelischen Polizeiseelsorger Frank Rutkowsky.

Wir trafen uns in der folgenden Zeit mehrfach. Frank Rutkowsky versuchte, mir meine Reaktionen zu erklären. Ich befaßte mich etwas eindringlicher mit dem Thema. Aber es kam für mich überhaupt nicht in Frage, mir eine posttraumatische Belastungsstörung einzugestehen. Ich hatte nur ein paar Probleme mit der Verarbeitung, aber damit würde ich schon zurechtkommen. Ich lehnte weitere Treffen ab.

In den folgenden Wochen gelang es mir, mich einigermaßen zusammenzureißen, ich erlangte ein wenig Kontrolle über mich selbst zurück. Die Bilder und Gedanken begleiteten mich weiterhin, ich schlief immer noch schlecht und gönnte mir zu viele "Entspannungsdrinks". Ich merkte, daß ich immer noch nicht wieder "rund lief". Trotzdem zog ich mein Programm durch. Irgendwann würde es schon besser werden.

Dann erlebte ich kurz hintereinander zwei Situationen im Dienst, in denen ich merkte, daß ich die Kontrolle verlor und nicht mehr funktionierte. So war ich etwa im Einsatz, als ein Messerstecher im vergangenen September in einer Kiez-Kneipe ein Dutzend Menschen verletzte. Mit einem Kollegen rannte ich zu Fuß von der Davidwache zum Tatort und hörte über Funk, wie immer mehr Rettungswagen bestellt wurden. Plötzlich sagte mir mein Kopf: Es geht nicht, du kannst da nicht hin. Das schockierte mich zutiefst.

Von diesem Zeitpunkt an ging es mir immer schlechter. Aus eigener Kraft kam ich nicht mehr weiter.

Schließlich rief ich auf Anraten einiger aufmerksamer Kollegen beim Polizeipsychologischen Dienst an. Ein Kollege dort schlug sofort ein Treffen vor. Er führte mir unmißverständlich vor Augen, daß ich dringend Hilfe benötigte. Er vermittelte mir einen Platz bei einer Trauma-Therapeutin, wo ich auch schnell mit einer Trauma-Therapie begann. Auch ließ ich mich widerstrebend krankschreiben, da ich nicht mehr garantieren konnte, daß sich die Kollegen uneingeschränkt auf mich verlassen konnten.

Die Therapie war ein langwieriger Prozeß mit vielen Höhen und Tiefen, der viel Geduld erforderte. Aber schließlich wurde es doch besser. Das war sieben Monate nach dem Ereignis. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt wurde auch meine Dienstunfallverhandlung geschrieben. Das ist jetzt sechs Monate her und ich warte immer noch auf eine Entscheidung, ob der Dienstunfall anerkannt wird.

Mittlerweile bin ich wieder im Dienst und es geht mir gut. Die Erlebnisse des letzten Jahres sind weiterhin in meinem Kopf. Erinnerungsfetzen, die mich so von meinen bis dahin recht standhaften Füßen geworfen haben. Dort werden sie auch immer bleiben und sich hin und wieder auf Wanderschaft begeben.

Ich möchte mit diesem Beitrag die Kollegen sensibilisieren und aufmerksam machen. Eine posttraumatische Belastungsstörung kann jeden treffen. Ich habe mich immer für einen Menschen gehalten, der mit beiden Beinen fest im Leben steht, der immer seinen Weg geht mit einem klaren Ziel vor Augen. Für eine harte Polizistin, die so schnell nichts umhaut. Ein Indianer kennt keinen Schmerz - ein Polizist erst recht nicht. Das ist falsch!

Auch Polizisten haben etwas, das sich Herz nennt. Und dieses Herz kann getroffen werden, kann Trauer empfinden und Schmerzen. Das ist alles menschlich und macht aus uns keine schlechten Polizisten, sondern uns zu dem, was wir sind. Wir sind keine Maschinen, die völlig abgestumpft sind. Natürlich empfinden wir nicht alle gleich. Was für die einen banal ist, kann für die anderen tiefen Schmerz bedeuten.

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß auch in einer immer noch männlich-dominierten Organisation wie der Polizei Gefühle gezeigt werden können, ohne daß jemand gleich "abgestempelt" wird. Es gibt sicherlich noch Kollegen mit althergebrachten Denk- und Sichtweisen. Deren Bekanntschaft mußte ich glücklicherweise nicht machen.