Blankenese: In einer Villa der Familie Warburg fanden 300 KZ-Überlebende nach der Befreiung ihre erste Heimat. “Es war das erste Mal nach sechs Jahren, daß wir wieder atmen konnten“, erinnert sich Jakob Horowitz an seine Ankunft in Hamburg 1945. Jetzt will er mit anderen Jugendlichen von einst hier Wiedersehen feiern.

Hamburg. Nebel umfängt das weiße Herrenhaus auf dem Kösterberg in Blankenese. Am Fuß des Hügels fließt die Elbe; im Dunst über dem Fluß scheinen Schiffe zu schweben. Die Gründerzeitvilla liegt abseits der Straße, es herrscht Stille. Hier kamen die jüdischen Kinder an, vor knapp 60 Jahren, im Winter. Sie saßen in Lastwagen und kamen aus Bergen-Belsen, wo die Menschen auch nach der Befreiung immer noch massenhaft an Typhus und Tuberkulose starben und wo viele der Kinder ihre Mütter und Geschwister hatten dahinsiechen sehen. Es war Dezember 1945, der Krieg seit einem halben Jahr offiziell vorbei. Jetzt waren die Kinder in Blankenese und sahen von der Säulenterrasse den Berg hinab, sahen Schiffe auf der Elbe. Es muß für sie wie eine Ahnung vom Paradies gewesen sein.

"Ich habe in Blankenese wieder lachen gelernt", erinnert sich Jakob Horowitz. Fünfzehneinhalb Jahre alt war er, als er auf dem Kösterberg ausstieg. Er war ein Jugendlicher, sein Vater noch in Polen, die Schwester in Berlin, die Mutter und die jüngere Schwester tot in Theresienstadt. Es gibt ein Foto, das Jakob Horowitz auf dem Rasen vor dem weißen Haus in Blankenese zeigt, darauf grinst er fast und legt den Arm um seine ältere Schwester, die ihn besuchen kam. Das war im April, nur wenige Monate später. "Da war ich wieder ein Mensch", sagt Jakob Horowitz.

Jakob Horowitz war eines von mehr als 300 jüdischen Kindern, die nach dem Krieg in Blankenese zum ersten Mal wieder menschliche Wärme erfuhren: Sie wurden von den Erzieherinnen in den Arm genommen, gekämmt und geküßt. Der jüdische Bankier Eric Warburg, der noch vor dem Krieg in die USA emigriert war, hatte nach Kriegsende das Familien-Anwesen für ein Kinderheim zur Verfügung gestellt. Vor dem Eingang der Gründerzeitvilla raschelt heute eine Eiche, die so dick ist, daß sie auch schon vor 60 Jahren dort gestanden haben muß. In drei Wochen kehren 40 ehemalige Kinder mit ihren Angehörigen für eine Woche nach Blankenese zurück und gehen wieder in das Haus, in dem sie damals Aufnahme fanden. Auch einer der Lehrer von damals, Gilel Melamed aus Hamburg, wird kommen.

"Wir haben auf keinen Fall mit dieser Resonanz gerechnet", gesteht Martin Schmidt (71). Der Altphilologe ist Vorsitzender des Vereins zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese. Als der Verein vor zwei Jahren eine Ausstellung über jüdische Schicksale in Blankenese vorbereitete, stießen Schmidt und seine Mitstreiter auf die Geschichte der Kinder vom Kösterberg. Die meisten von ihnen waren jeweils nach einigen Monaten in Blankenese gemeinsam ins damalige Palästina ausgewandert. Sie haben dort einen Verein gegründet und nennen sich noch heute "Die Kinder von Blankenese". Zusammen mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Hamburg sprach der Blankeneser Verein für die ehemaligen Kinder eine Einladung nach Blankenese aus. Mehr als 100 zeigten sofort Interesse. "Das überstieg unsere Kapazität", erklärt Schmidt. In diesem Jahr reisen erst mal diejenigen an, die zu der ersten Gruppe der aufgenommenen Kinder gehörten. Auch Jakob Horowitz wird dabeisein.

Als sie damals, vor 60 Jahren, in Blankenese ankamen, "das war das erste Mal nach sechs Jahren, daß wir geatmet haben", erzählt Horowitz. "Wir kamen von der Kälte in eine warme Luft. Das war ein Paradies." Polnische Soldaten übernahmen eine Art Patenschaft für die Kinder, brachten Süßigkeiten, spielten Theater, nahmen die Kinder auf Ausflüge mit. Und sie bekamen Unterricht. "Ich hatte keine Ruhe. Ich habe Lernen gesucht", sagt Jakob Horowitz. Auf dem Kösterberg-Anwesen war er im Gästehaus untergebracht. "Wir Jungen wohnten im Dachgeschoß, die Fenster waren Bullaugen. Wenn man da raussah, sah man nur Horizont, Elbe und vorbeiziehende Schiffe." Eine der Erzieherinnen, die später in Frankreich lebte, notierte in ihren Erinnerungen über das Kinderheim: "Tout etait reel et en même temps surrealiste" - Alles war wirklich und gleichzeitig surreal.

Das Kinderheim existierte als "Warburg Children Health Home" bis 1949. Die Blankeneser begegneten den Kindern, wenn sie sich außerhalb des Heims bewegten, nicht unbedingt freundlich: "Der Kontakt war gestört", urteilt Jakob Horowitz. "Wir fühlten uns fremd, und sie behandelten uns auch so." Warum handelten die Blankeneser so? Aus Scham? Bei einem Schneider bestellte Jakob Horowitz damals einen Anzug. "Der machte das ungern", berichtet er. "Aber der wollte den Kaffee, mit dem ich ihn bezahlt habe."

Jakob Horowitz ist jetzt 76 Jahre alt und lebt in einer großen Wohnung neben dem jüdischen Friedhof in Frankfurt am Main. Er kehrte mit seinem Vater, einem Steinmetz, aus Israel zurück, als dieser krank wurde. Sie landeten in Frankfurt. Jakob gründete eine Familie, übernahm den Beruf seines Vaters, fertigte Grabsteine und verwaltete den Friedhof. Neben seinem Sofa steht ein Weltempfänger, der die Zeit in Israel anzeigt. Die Bücher im Regal sind auf jiddisch, polnisch, deutsch, hebräisch - der Muttersprache, der Schulsprache, der Lager-Sprache, der Sprache Israels. In welcher fühlt er sich zu Hause, in welcher Sprache zählt er? "In allen. Da gibt es keinen Unterschied." Jakob Horowitz sagt das ohne Groll. Wenn er deutsch spricht, klingt sein "ü" ein wenig nach "i", ein Merkmal des Jiddischen.

In einer Villa auf dem Kösterberg wohnt noch heute Max Warburg, Enkel des Bankiers mit gleichem Namen: Es ist das ehemalige Gästehaus mit den Bullaugen-Fenstern im Dachgeschoß. Max Warburg wird die ungewöhnliche Reisegruppe in seinem Haus empfangen. Die Kosten der Reise werden aus Spenden finanziert. Martin Schmidt hatte mit seinem Verein die Blankeneser geben, mit Patenschaften die Einladungen zu finanzieren. "Die Bereitschaft zu spenden war nicht gering", formuliert er. Er hofft so auch, daß im kommenden Jahr eine zweite Gruppe folgen kann. Geschichtsforscher wollen schon dieses Mal die Gelegenheit nutzen, die Zeitzeugen nach ihrem Leben zu fragen.

"Mein ganzes Leben war ungewöhnlich", wird dann Jakob Horowitz vielleicht wieder antworten. Er überlebte die Lager, verlor Mutter und Schwester, versteckte sich sechs Wochen lang in einer Gruft mit Särgen. In Frankfurt hilft er noch auf dem jüdischen Friedhof aus. "Der Friedhof ist Ruhe. Ich fühle mich durch meine Biographie den Toten verpflichtet", sagt er. Wenn er über Lebenszeit nachdenkt, kommt er zu dem Schluß: "Sie ist wie eine Rolle Toilettenpapier. Am Ende rollt sie sich immer schneller ab."

Neben dem Grab seines Vaters hat Horowitz einen Platz für sich reserviert. Eine Tochter wohnt in der Stadt, die zweite in Texas. Er hat fünf Enkelkinder und zwei Urenkel. "Besonders die Enkel und Urenkel, die sind meine Krönung", schließt Jakob Horowitz. "Ich hatte dreimal sterben sollen, aber ich habe gelebt, und ich habe Leben gespendet."