Hans Apel: Vor 50 Jahren wurde der Hamburger Sozialdemokrat. Damals nannte man die Partei noch “CSU des Nordens“, doch heute treibe sie orientierungslos durch die politische Landschaft, beklagt der Minister a. D. im Abendblatt.

Im Herbst 1945 kommt mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause. Als kleiner Nazi war er eingerückt, als Christ und Pazifist kehrt er zurück. Kurz darauf stirbt meine Mutter. Nun sind wir beide allein. Für Politik interessieren wir uns erst, als Adenauer die deutsche Wiederbewaffnung anbietet. Mein Vater schleppt mich zu den großen Friedenskundgebungen von Gustav Heinemann, unserem späteren Bundespräsidenten. Im April 1955 trete ich in die SPD ein. So will ich die Aufrüstung Deutschlands stoppen. Ich kann damals nicht ahnen, daß ich 23 Jahre später einmal Verteidigungsminister sein werde.

Meine SPD hat zu jener Zeit mehr als 45 000 Mitglieder. Wir sind d i e Hamburg-Partei, sagen unsere Gegner. "Die bayerische CSU des Nordens." Na und! Mit den Bürgermeistern Max Brauer, Paul Nevermann und Herbert Weichmann und einer leistungsstarken Senatsriege leisten wir Hervorragendes für Hamburg. Nevermann setzt an die Stelle der zerbombten Wohnviertel mit ihren Hinterhöfen eine begrünte Stadtlandschaft. Max Brauer und Karl Schiller bauen unseren Hafen wieder auf und begründen das Bündnis mit den Hamburger Kaufleuten. Mit Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Willi Berkhan, dem späteren Wehrbeauftragten, verfügt die Hamburger SPD in Bonn über Spitzenpolitiker, die den Kurs der Bundespartei entscheidend mitbestimmen.

Ich werde bald Unterkassierer im Distrikt Barmbek-Mitte. Meine Verlobte und ich gehören der Jungen Gemeinde in Alt-Barmbek an. Wir singen Choräle und lernen gleichzeitig sozialistische Kampflieder. Barmbek ist ein durch und durch sozialdemokratischer Bezirk. In einzelnen Mietshäusern mit zehn Wohnungen wohnen acht Genossen. Wir reden miteinander. Köm trinken vertrage ich nicht. Aber das Gehörte trage ich weiter. Wir kümmern uns um die Probleme vor Ort. Später reden die Jungen über die Basis. Doch damit meinen sie sich selbst. Denn pragmatisches Handeln und die hautnahen Interessen der Wähler interessieren sie nicht.

1956 werde ich zum Landesgeschäftsführer der Hamburger Jungsozialisten gewählt. Mindestens zweimal die Woche sind meine Frau Ingrid - die als gelernte Stenotypistin mein Büro führt - und ich unterwegs für die Jusos und die Partei.

Das hilft mir, als ich nach sieben Jahren - von 1958 bis 1965 Beamter des Europäischen Parlaments - von Luxemburg nach Hamburg zurückkehre und gegen Max Brauer im Wahlkreis Hamburg-Nord um die Kandidatur für den Bundestag antrete. Im Herbst 1965 werde ich direkt in den Bundestag gewählt. Als wir 1966 in Bonn mit der CDU/CSU die Große Koalition bilden, ist der Widerstand in Hamburg-Nord beachtlich.

Die Partei verändert sich. Noch tragen die Alten die Hauptlast der Parteiarbeit. Doch die Mandate der Kreisdelegierten-Versammlungen wechseln schrittweise von ihnen zu jüngeren wortgewandten Parteimitgliedern, die von der traditionellen Loyalität und Solidarität der SPD nicht geprägt sind. Und die mit ihren Parolen die Gremien beherrschen.

Noch steht die SPD im Bund und in Hamburg bei der Wählern glänzend da. Doch die Saat für die "andere SPD" wird gelegt. Die Wurzeln zur alten Arbeitnehmerpartei SPD werden gekappt. Die Hochschulpolitik wird zum ersten Kampffeld.

Die 68er - eine Generation, die den Krieg nicht mehr miterlebt hat - setzen bundesweit, aber auch in Hamburg an, um die alte Ordinarien-Universität zu zerstören. Sie fordern viel mehr Geld und die volle Mitbestimmung aller, auch der Studenten. Die Mitbestimmung wird erreicht, viel mehr Geld nicht. Die Staatsfinanzen geben das nicht her. Und sie entdecken einen weiteren Feind: Axel Springer und seine Presseorgane. "Springer enteignen!" heißt die Parole. Herbert Weichmann wird "von den Linken weichgekocht". Am 9. Juni 1971 tritt er zurück, nachdem die Partei ihn in Fragen einer soliden Haushaltspolitik und bei der Begrenzung der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst nicht mehr unterstützt.

Seine Warnungen vor einem verhängnisvollen Autoritätsverlust des demokratischen Rechtsstaates auch in der Bundesrepublik, vor "Zersetzungserscheinungen in der Demokratie, vor gewissen faschistoiden Tendenzen" gerade in der "Jugend, die vorgibt, links zu sein", will die Mehrheit in der SPD nicht mehr hören.

Die Hamburger Wähler reagieren. 1974 sackt die SPD auf 44,9 Prozent ab. Nach einem Zwischenhoch bei den Bürgerschaftswahlen 1978 landet die SPD 1982 hinter der CDU auf dem zweiten Platz mit 42,7 Prozent. Doch nun ist die GAL in der Bürgerschaft. Die CDU kann nicht regieren. Sechs Monate später wird erneut gewählt. Unter dem Eindruck des Verrats der FDP in Bonn an Helmut Schmidt durch deren Wechsel zur CDU kann die SPD noch einmal 51,3 Prozent erringen.

Doch innerhalb der SPD verschärft sich der Konflikt. Schon Anfang Oktober 1981 verteilen die Jusos Flugblätter, auf denen sie Helmut Schmidt und mir Kriegsvorbereitungen vorwerfen. Nichts geschieht. Der Landesparteitag Mitte Januar 1982 beschließt im Kampf gegen den Nato-Doppelbeschluß, Europa zu einer atomwaffenfreien Zone zu machen. Das ist eine klare Kampfansage an mich, denn ich unterstütze als Verteidigungsminister Helmut Schmidts Politik.

1985 kehre ich nach der verlorenen Wahl in West-Berlin, wo ich für meine Partei als Spitzenkandidat gegen Eberhard Diepgen angetreten war, nach Hamburg zurück. Dort begegnet mir inzwischen blanke Verachtung. Die linke Mehrheit im Kreis Nord gibt die Parole aus: "Apel geht von Berlin nach Neapel." Das heißt: Nee, Apel. dich wollen wir nicht mehr.

Die Kreisvorsitzende begründet das so: "Wir vertreten dieselben politischen Grundsätze wie Oskar Lafontaine. Politisch sprichst du seit acht Jahren nicht mehr für uns." Konsequenz: keine erneute Kandidatur für den Bundestag.

Ich wende mich an die Basis in den zwölf Ortsvereinen meines Wahlkreises. Mein Gegenkandidat Hermann Scheunemann und ich stellen uns vor Ort vor, und danach werden die Delegierten für die Wahlkreiskonferenz gewählt. Ich erhalte 88 Delegierte, Hermann Scheunemann 50. Ich bin erneut der SPD-Kandidat. Den Wahlkampf machen wir ohne die Linken.

Auf dem Bundesparteitag 1988 in Münster am 1. September fliege ich als finanzpolitischer Sprecher der Partei und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion aus dem Parteivorstand. Zwar sagen Hans Jochen Vogel und andere noch: "Wir brauchen dich", aber sie tun nichts. Die linke Mehrheit wählt mich ab. "Wenn du jetzt nicht gehst, werden sie dich zu Corned beef verarbeiten", sagt meine Frau. Helmut Schmidt hilft mir bei der Abfassung einer entsprechenden Erklärung: "Du mußt dich so verhalten, daß du dich auch noch in fünf Jahren im Spiegel ansehen kannst."

Die Bundes-SPD hat keinen klaren Kurs. Parteivorsitzende und Kanzlerkandidaten wechseln in schneller Folge. Durch die Flirts mit der SED wird die deutsche Einheit verschlafen. Die Herausforderungen der Globalisierung und unserer älter werdenden Gesellschaft werden nur unzureichend beantwortet. Die SPD verliert die Bindung ihrer Politik an ihre Grundwerte. "Basta" heißt es nun.

In Hamburg ist es noch mausgrauer. Die neuen Genossen haben die Macht übernommen. Sie kommen vornehmlich aus dem öffentlichen Dienst. Es sind Ideologen. "Atomkraft ? Nein Danke", auch wenn es an realistischen Alternativen fehlt. Kampf dem Individualverkehr, auch wenn sie sich selbst herumkutschieren lassen. Ablehnung des Großflughafens Kaltenkirchen. Mulitikulti, auch wenn die eigenen Anhänger in Wilhelmsburg, in Billstedt und anderswo in Scharen davonlaufen. Jan Ehlers ist ihr eigentlicher Kopf. Um ihn herum im Senat Linke und Rechte. Um Qualität geht es weniger, es geht um den Einfluß und die Postenverteilung von Links und Rechts.

Ständige Querelen sind angesagt. Klaus von Dohnanyi wirft 1988 genauso entnervt das Handtuch wie vor ihm bereits die Bürgermeister Peter Schulz und Hans-Ulrich Klose. Nicht anders soll es später Henning Voscherau ergehen. Als Helmut Schmidt 1997 vor der Bürgerschaftswahl öffentlich anklingen läßt, daß die Hamburger SPD eigentlich in die Opposition gehöre, schieben sie ihm die Verantwortung für das Wahlergebnis in die Schuhe. Ich äußere mich stets zurückhaltender.

Doch Kritik können die Linken nicht ertragen. Als ich vor drei Jahren meinen 70. Geburtstag habe und das von allen Zeitungen vermerkt wird, gratulieren alle, von Ole von Beust bis hin zu Herrn Mettbach von der Schill-Partei, vom Bundespräsidenten bis zum Bundeskanzler. Ich höre nichts von meiner Landespartei, dem Kreisverband Nord oder der Bürgerschaftsfraktion.

Wo steht meine Hamburger Partei bei meinem 50. Parteijubiläum? Von damals 45 000 Parteimitgliedern sind noch 12 000 geblieben. Aus den 57,4 Prozent bei der Bürgerschaftswahl 1961 werden 2004 30,5 Prozent Wähleranteil. Das sind bundesweit negative Spitzenwerte. Vor gut 50 Jahren wird von der Hamburger SPD mit Max Brauer, Karl Schiller, Helmut Schmidt und Herbert Wehner die inhaltliche Erneuerung der SPD vorangetrieben: Ja zur Europapolitik, zum Nato-Bündnis, zum Godesberger Grundsatzprogramm.

Heute treibt die Partei orientierungslos durch die politische Landschaft. In Hamburg will sie vor allem von den politischen Fehlern der Regierenden leben. Das kann gelingen. Angela Merkel versucht es in Berlin genauso.

Doch gerade das verdrießt die Bürger und gefährdet unsere parlamentarische Demokratie. Klare Alternativen müssen her, damit die Bürger wissen, wofür die Parteien stehen.