Viele Lokführer wie Holger Meyer nehmen nach dem schrecklichen Unglück psychologische Hilfe in Anspruch. Einige lässt die furchtbare Erfahrung nicht los, und sie geben ihren Beruf auf.
Im ersten Augenblick ist da nur ein heller Fleck. Etwas Irritierendes, das nicht ins Gleisbett gehört, eine Plane vielleicht. Lokführer Holger Meyer (Name geändert) hofft inständig, dass es ein Gegenstand ist, was da vor ihm in der Dunkelheit auf den Schienen liegt. Und nicht ein Mensch. Sein verzweifelter Versuch, den rund 500 Tonnen schweren Intercity noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen - vergeblich. Dann, Millisekunden vor dem Aufprall, erkennt der 40-Jährige, dass es tatsächlich eine Person ist, die dort liegt. Reglos. Im nächsten Augenblick überrollt der Zug den Körper. Holger Meyer bringt den IC zum Stehen, steigt aus, atmet tief durch. Versucht sich zu wappnen für den Anblick, der ihn erwartet. Achtet darauf, nicht etwa über das Opfer zu stolpern. Mit weichen Knien, die Gedanken rasen, geht er am Zug entlang, bis zum Ende. Und da sieht er ihn, den Körper eines Mannes. Und er erfasst mit demselben Blick, dass der Kopf fehlt. Vom Rumpf abgetrennt, liegt er einige Meter weiter unter einem der Waggons. Ein grauenhafter Anblick. Ein Albtraum.
Doch Holger Meyer funktioniert, irgendwie. So wie er es in Schulungen bei der Deutschen Bahn im Falle von Personenunglücken, wie es im Fachjargon heißt, gelernt hat. Er hat den Zugchef informiert, über Funk den Zugverkehr in der Nähe gestoppt, die Reisenden über die Verzögerung informiert. Er alarmiert Bundespolizei und Feuerwehr. Er gibt seine Personalien an. Eine traurige Routine: Rund 800 bis 900 Personenunglücke gibt es im Netz der Deutschen Bahn pro Jahr in Deutschland. Das sind zwei bis drei am Tag. Im Laufe seines Berufslebens unterliegt jeder Lokführer einem statistischen Risiko, zwei bis drei Suizide miterleben zu müssen. "Die Lokführer gehen sehr unterschiedlich damit um", sagt ein Hamburger Betriebsrat. "Manche kommen halbwegs damit klar, andere sind schwer traumatisiert. Ich kenne einen, der hat es dreimal gut weggesteckt, beim vierten Mal musste er seinen Beruf an den Nagel hängen." Mitunter mache es für die Kollegen auch einen Unterschied, so der Betriebsrat, ob das Opfer jung war oder alt.
Holger Meyer weiß nichts über den Mann, der sich an jenem Tag in der Vorweihnachtszeit auf die Gleise gelegt hat, auf der Strecke von Hamburg nach Dortmund, wenige Hundert Meter hinter einem Bahnhof. Den er mit etwa Tempo 80 erfasste. Er will es auch gar nicht wissen. Die Anonymität hilft, mit dem Grauen umzugehen. Eindeutig ist jedenfalls: "Der wollte kein Risiko eingehen, dass es nicht klappt", ist der Lokführer überzeugt. Und: "Ich hatte keine Chance, es zu verhindern." Das sagt er sich selbst. Das sagt ihm am Abend auch seine Lebensgefährtin, mit der er über das Unglück redet. Und das wiederholt er immer wieder, wie ein Mantra, in dieser ersten Nacht nach dem Unfall. Als er sich schlaflos im Bett hin und her wälzt. Als sich aus seinem Kopf die furchtbaren Bilder nicht verdrängen lassen, wie der Zug unaufhaltsam auf den Körper zufährt, ihn überrollt. Als er wieder und wieder überlegt, ob er auch wirklich alles richtig gemacht hat. Nicht etwa zu schnell gefahren ist. Denn die Bundespolizei stellt im Falle eines Personenunglücks alle Daten sicher, ermittelt wegen fahrlässiger Tötung. "Doch ich hatte mir nichts vorzuwerfen", ist der Bahrenfelder überzeugt. Das hilft ihm, mit dem Grauen umzugehen.
Trotzdem war er froh, dass ihm vonseiten der Bahn psychologische Betreuung angeboten wurde. Dass ihm gesagt wurde, er solle eine Auszeit nehmen. Denn der Unfall hat ihn doch erheblich mehr mitgenommen, als er zunächst geahnt hat, als er wahrhaben wollte. Da waren die ungewohnte Schreckhaftigkeit, dazu Rastlosigkeit, Beklemmung, Schlafstörungen. Auch weil etwa zu der Zeit seine zwei Jahre ältere Schwester ihrem langen Krebsleiden erlag. "Eigentlich wollte ich nicht über den Mann, der Suizid verübt hat, nachdenken", sagt der Lokführer. "Doch jetzt habe ich immer überlegt, warum er so verzweifelt war, dass er diesen Tod gewählt hat. Ob er vielleicht eine tödliche Krankheit hatte und seine Familie nicht mit reinziehen wollte." Bis der 40-Jährige sich so weit stabilisiert hatte, dass er wieder arbeiten konnte, vergingen mehr als vier Wochen. Und auch dann war da noch lange diese Beklemmung, die er empfand, wenn er wieder mit einem Zug den Unfallort passierte.
Und doch ist sich Holger Meyer bewusst, dass er noch Glück gehabt hat. Dass Kollegen von ihm noch Schlimmeres erlebt haben als er. Wenn die Lok einen Menschen bei Tempo 150 oder 200 erfasst, der Körper hochgeschleudert wird und in Stücke gerissen. "Dieser Anblick verfolgt einen bis in die Träume, brennt sich ins Gehirn. Aber am schrecklichsten ist der Geruch, der Geruch der Leichenteile", weiß der Lokführer aus Schilderungen von Kollegen. "Diese furchtbare Erfahrung lässt einen nie wieder los."
Eine Erfahrung, von der Christoph Klein (Name geändert) hoffte, dass er sie nie würde machen müssen. Und doch wusste er, als er vor 20 Jahren Lokführer wurde, dass es ihm eines Tages passieren könnte, dass er einen Menschen überfährt. "Das hört man von Kollegen, aber man hofft natürlich, dass man Glück hat", erzählt der 39-Jährige. "Und man versucht, es nicht an sich ranzulassen." Das funktionierte auch ganz gut. Bis zu jenem Wintertag, als der Lokführer in seinem ICE bei Tempo 200 einen Schlag hörte. "Ich habe mir eingeredet, dass es wohl ein Tier gewesen sein muss, das ich erwischt habe."
Doch als er an seinem Zielbahnhof ankam, "stand da die Polizei und teilte mir mit, dass es einen Verdacht auf Personenschaden gibt. Man versucht, das zu realisieren, es läuft ab wie im Film", erzählt der Lokführer. "War das Opfer jung oder alt, Mann oder Frau, ich wusste nichts. Ich wollte es aber wissen, um es für mich vollständig zu machen. Ich wollte wissen: Wen hat es getroffen?" Die Nacht nach dem Unfall habe er kaum geschlafen. "Ich musste immer wieder daran denken, was passiert war. Am nächsten Tag wurde ich krankgeschrieben und habe psychologische Betreuung in Anspruch genommen." Und er erfuhr, dass das Unglück kein Suizid war, sondern ein Unfall. Ein junger Mann, gerade Anfang 20, hatte nicht eine Unterführung genommen, sondern war über die Gleise gerannt. Er war sofort tot. "Mich packte die Wut", erinnert sich der Hamburger. "Ich dachte, das ist doch ein Erwachsener, was sucht der auf den Schienen. Aber da war auch die Trauer, dass ich jemanden aus dem Leben gerissen habe. Ich merkte, dass es mir sehr nahegeht."
Doch schon zwei Wochen nach dem Unglück erschien Christoph Klein wieder zum Dienst, fuhr gleich beim ersten Mal dieselbe Strecke. "Ich wollte wissen, wie gehe ich damit um. Es war tatsächlich eine enorme Anspannung, ich habe nach Hinweisen gesucht, wo der Unfallort genau war. Und da ist auch der Gedanke: Es kann dir wieder passieren, heute Abend schon oder morgen. Doch ich versuche, das nicht in den Mittelpunkt zu stellen. Lokführer ist schließlich mein Beruf." Trotzdem, Christoph Klein denkt immer wieder an den Mann, der auf den Gleisen gestorben ist. "Weil er noch so jung war und sich durch so eine Blödheit die Chance genommen hat, das Leben zu genießen. Ich überlege immer wieder: Wenn ich nur Augenblicke früher da vorbeigefahren wäre oder wenige Momente später. Dann wäre es nicht passiert."