Schicksale, die zu Fällen werden: Eine Hamburger Sozialarbeiterin berichtet offen aus ihrem Alltag. Um sie zu schützen, nennt das Abendblatt nicht ihren Namen.

ASD-Sozialarbeiter zu sein, das bedeutet täglich Angst haben. Angst vor meiner sogenannten "Garantenpflicht." Denn ich bin verantwortlich für - wie es im Behördendeutsch so schön heißt - "120 Fallzuständigkeiten." Im Klartext: Ich bin zuständig für 120 Schicksale - Kinder, Jugendliche und junge Mütter. Alle werden vom Amt für Soziale Dienste (ASD), ein Fachbereich des Jugendamtes, betreut. Und wenn einem Kind etwas passiert, dann muss ich dafür geradestehen. Sogar vor Gericht. Jeder kennt noch den Fall Kevin aus Bremen. Da stand mein Jugendamt-Kollege tatsächlich vor Gericht. Pflichtverletzung war der Vorwurf.

Man sieht: Die Verantwortung ist groß. Bezahlt wird die nach TVL (Tarif Vertrag der Länder). Für Berufsanfänger sind das gut 1200 Euro und nach ein paar Jahren bekommt man sogar über 1500. Und dafür steht man manchmal mit einem Bein im Gefängnis.

Wir leben mit einem ewigen Gewissenskonflikt und der besteht darin: Du bist verantwortlich für 120 Fälle, also Menschen, und du weißt immer genau, du hast nicht genug Zeit für die einzelne Familie und deren Probleme. Die Kehrseite: Und wenn man dann durchgreift, dann heißt es wieder "das böse Jugendamt".

Und wir haben immer mehr zu tun. Seit dem Fall Jessica vor knapp vier Jahren melden sich immer mehr Leute bei der Polizei, wenn sie glauben, in einer Nachbarsfamilie läuft was schief. Das ist ja im Prinzip auch richtig, aber wir kommen kaum noch nach.

Die Zahl der ASD-Mitarbeiter ist nicht proportional angestiegen und da liegt das Problem. Wir schreiben dann sogenannte "Überlastungsanzeigen." Aber niemand soll glauben, dass dann entsprechen viele Mitarbeiter eingestellt werden.

Die in diesem Jahr 30 zugesagten Stellen sind da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Meine Aufgabe als ASD-Sozialarbeiter ist es, jeder Meldung nachzugehen. Im Idealfall stellen Eltern, die sich überlastet fühlen, sogenannte Anträge auf "Hilfe zur Erziehung". In Wirklichkeit aber ist es aber oft so, dass in vielen Fällen die Eltern überfordert sind und wir die Eltern überzeugen müssen, Hilfe zu beantragen. In den letzten Jahren habe ich immer öfter mit jungen Müttern zu tun, die erhebliche psychische Probleme haben. Sie sind mit der Organisation des eigenen Lebens überfordert und erst recht mit der Verantwortung für ein eigenes Kind.

Aber so einfach ist es mit diesem Antrag auch nicht. Erst muss ich einen "Hilfebegründeten Bericht" schreiben. Die Situation beschreiben und deutlich machen, warum das Kind, der Jugendliche oder etwa die junge Mutter Unterstützung braucht. Mehr Hilfestunden als fünf in der Woche, das ist der Standard, muss mein Vorgesetzter unterschreiben. Ohne Unterschrift keine zusätzliche Hilfe. Und genau das ist die große Schwierigkeit. Seit Jessica wurden zwar deutlich mehr erhöhte Hilfeleistungen bewilligt, aber ich befürchte, dass im Laufe dieses Jahres wieder mehr auf das Geld geguckt werden muss.

Ist der Antrag bewilligt, beauftrage ich einen freien Träger. Ein Mitarbeiter besucht dann die Familien zu Hause, betreut sie und versucht zu helfen. Die Verantwortung bleibt bei mir. Mir muss gemeldet werden, wenn es etwa Anzeichen für Kindesvernachlässigung gibt.

Fünf Wochenstunden, also die Standardbetreuung, heißt nicht, dass diese fünf Stunden in den Familien verbracht werden. Die An- und Abfahrt gehört dazu und das Schreiben der Berichte auch. Wir haben da eine Faustregel: Von den fünf Wochenstunden bleibt genau die Hälfte für Betreuung über.

Besuch von der Behörde hat keiner gerne. Wenn wir in die Familien kommen, angemeldet natürlich, dann ist alles aufgeräumt. Die Kinder sind frisch gewaschen und liegen brav im Bett.

Dick eingepackt. Und dann sind Betreuer angehalten, das Kind zu wecken und auszuziehen, um zu gucken ob alles in Ordnung ist. Macht man das nicht, könnte es ja später heißen, man hätte vielleicht Spuren von Schlägen übersehen. Im Amtsdeutsch heißt das: Ist das Kind auch unversehrt? Und wenn man das nicht macht? Pflichtverletzung heißt es dann. Mit einem Bein im Gefängnis und so weiter.

Alle sechs Monate erhalte ich in jedem der 120 Fälle mindestens einen Bericht. Jedes halbe Jahr treffe ich mich mit dem Betreuer und der Familie. Hilfe-Plan-Gespräch heißt das. Dabei legen wir Ziele fest. Etwa, dass das Kind pünktlich zur Schule kommt. Dass es ein Butterbrot dabei hat. Dass Schularbeiten gemacht werden. Dass Untersuchungen beim Kinderarzt eingehalten werden, zum Beispiel.

Und wenn das alles nicht funktioniert, wenn das Kind unter keinen Umständen bei den Eltern bleiben darf, weil ich den begründeten Verdacht habe, dass etwa ein Baby vernachlässigt worden ist, dann kann ich als ASD-Sozialarbeiter den kleinen Jungen oder das kleine Mädchen für 48 Stunden in Obhut nehmen. Ob es dann in ein Heim, in eine Pflegefamilie oder zurück zu den Eltern kommt, das entscheidet das Familiengericht. Ich hab das in fünf Jahren gleich neunmal erlebt.