Hamburg. Ex-Theater in Hamburg wurde 1989 besetzt – und bald bundesweit Symbol für linken Widerstand. Schanzenviertel wird auch dadurch hip.

Vom einstigen Charme des Neo-Renaissancebaus mit seinen Ziergiebeln, Balustraden und verspielten Figuren auf dem Dach ist in diesem Herbst 1989 wenig geblieben. Karg und heruntergekommen steht das Gebäude am Schulterblatt, das obere Geschoss längst gekappt und durch ein Flachdach ersetzt, in einem Viertel mit alternativem Charme, das mit unsanierten Altbauwohnungen, günstigen Mieten und ein paar guten Kneipen Studenten und andere Menschen mit übersichtlichem Einkommen anzieht.

Alles andere also als ein Prachtbau also. Und doch steht es im Mittelpunkt des Begehrs von Investoren auf der einen Seite und Anwohnern, Autonomen und radikalen Linken auf der anderen Seite. Das Gebäude soll deutlich erweitert und völlig umgebaut zu einem massentauglichen Musicaltheater werden, das Tausende Besucher und Fans leichter Kultur von weit her anzieht. Die Gegner dieser Pläne fürchten, dass dies den Charakter ihres Viertels von Grund auf ändern würde, dass es vom Kommerz aufgesogen zu einer Art Disneyland für Vorstädtler wird.

Hamburger Schanzenviertel: Die Flora wird 1989 besetzt

Am 1. November 1989 – wenige Tage später wird die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten fallen – besetzt eine Gruppe aus Anwohnern und Linksautonomen das Gebäude. Es ist die Geburtsstunde der Roten Flora. Noch künden Schriftzüge an der Fassade vom letzten kommerziellen Nutzer, der Haushaltswarenkette „1000 Töpfe“. Doch auf das Portal über dem Vordach hat jemand das Wort „BESETZT“ geschrieben. Kaum einer der Aktivisten kann sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass die Rote Flora noch 33 Jahre später bestehen wird.

Und doch ist es so: Das Gebäude am Schulterblatt ist bis heute ein bundesweites Symbol für linken Widerstand. Viele kritisieren das ausgesprochen unklare Verhältnis der „Rotfloristen“ zur Gewalt und die eher übersichtliche Angebote des Stadtteilzentrums an die Masse der Menschen im Stadtteil. Krawalle am 1. Mai und nach jedem Schanzenfest sind lange festes Ritual des Protestes. „Die Rote Flora“, so heißt es im Hamburger Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022, bleibe „der bedeutendste politische Treff- und Veranstaltungsort der autonomen Szene in Hamburg und wird auch von weiteren militanten linksextremistischen Gruppierungen genutzt“.

„Die Schanze“ wird spätestens seit den Nullerjahre immer hipper

Die „Rotfloristen“ haben ihr Ziel von damals erreicht: Die Flora bleibt. Das dahinterliegende ursprüngliche Anliegen aber, die Gentrifizierung zu verhindern, haben sie völlig verfehlt. Mehr noch: Gerade das linksautonome Stadtteilzentrum hat diese Gentrifizierung des Viertels eher noch befördert. Dank des alternativen Charmes wird „die Schanze“ spätestens seit den Nullerjahren immer hipper, steht in den meisten Reiseführern als besuchenswerter Ort für Touristen und zieht nicht nur an den Wochenenden regelmäßig Besucher aus den Umlandkreisen an, die in der Großstadt etwas erleben wollen.

Der linke Touch, die Schmierereien, der Nonkonformismus und Anarcho-Schick werden zur Kulisse, in die sich Coffee Shops, vegane Lokale und kultige Bars bestens einfügen. Bis heute aber wird erbittert über die Rote Flora gestritten, zuletzt nach dem G-20-Gipfel 2017, bei dem das Viertel in Gewaltexzessen versinkt.

Erbaut als Varieté-Theater mit spektakulärem „Crystallpalast“

Die Geschichte der Flora beginnt dagegen ausgesprochen vergnüglich im Jahr 1889, als am 2. Juni das „Gesellschafts- und Concerthaus Flora“ eröffnet. Es ist ein prunkvolles Varietétheater, das seinen Namen einer Darstellung zufolge von einer Bark namens „Flora“ erhält, die – abgetakelt als schwimmendes Bier- und Tanzlokal an der Norderelbe vertäut – sehr beliebt war, bevor das Schiff 1888 abgewrackt wurde. Andere wollen wissen, dass sich Flora von einem künstlichen Garten mit hunderten Lampen in Blütenkelchen auf dem Gelände entlehnt ist.

Das „Gesellschafts- und Concerthaus Flora“ wird 1889 am Schulterblatt eröffnet.
Das „Gesellschafts- und Concerthaus Flora“ wird 1889 am Schulterblatt eröffnet. © Unbekannt | www.hamburg-bildarchiv.de

Wie auch immer: Die Vergnügungsstätte floriert. Es gibt Gesellschaftsräume, einen Konzertsaal, ein Café und ein Wintergarten. 1890 wird das Ensemble spektakulär nach hinten erweitert: Im Garten entsteht der „Crystallpalast“, eine leichte Jugendstil-Eisenkonstruktion mit Mittel- und zwei Seitenschiffen, verglast wie ein Gewächshaus. Gezeigt werden Operetten und Varieté-Theater für ein breites Publikum, das der eher leichteren Muse zugewandt war. Die Vergnügungsstätte inspiriert den Operettenkomponisten Paul Lincke Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem „Flora-Marsch“. „Dora – komm in die Flora, die so viele Reize hat. Sie liegt am Schulterblatt, ist ganz in deiner Näh´, das schönste Varieté.“

Hier treten sogar Fakire und ein boxendes Riesenkänguru auf

Das Gebäude überlebt zwei Weltkriege und zahlreiche Umbauten. Schon in den 1920er-Jahren werden hier mitunter Filme gezeigt, es folgen Boxkämpfe, sogar Fakire und ein boxendes Riesenkänguru treten auf. Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die große Zeit des Varietés vorbei. Am 15. August 1953 wird aus der Vergnügungsstätte der riesige „Flora-Filmpalast“. Nach knapp zehn Jahren hat auch das Kino keine Perspektive mehr. Es wird geschlossen. 1964 übernimmt die städtische Sprinkenhof AG das Gebäude und vermietet es an die Kaufhauskette „1000 Töpfe“.

Doch dann plant ein Investor 1987, aus dem zunehmend verfallenden Gebäude ein Musical-Theater zu machen. Unternehmer Friedrich Kurz will hier das „Phantom der Oper“ spielen lassen, das auch andernorts bereits Erfolge feiert. Die Investoren denken im großen Maßstab: Rund 450 Parkplätze sind vorgesehen, dazu 220 Busparkplätze. In der Umgebung, so das Kalkül, dürften neue schickere Restaurants und Bars entstehen, die Besucher vor oder nach dem Musical aufsuchen können. Der Kristallpalast auf dem Gelände der Flora wird schon mal abgerissen

„1000 Töpfe“ ist schon raus, als das Gebäude 1989 besetzt wird – das zeigt auch der Schriftzug am Portal.
„1000 Töpfe“ ist schon raus, als das Gebäude 1989 besetzt wird – das zeigt auch der Schriftzug am Portal. © picture alliance / Carsten Rehde | dpa Picture-Alliance / Carsten Rehder

Nach Straßenschlachten in Hamburg verzichten Investoren auf Projekt

Der SPD-geführte Senat erst unter Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und dann unter seinem Nachfolger Henning Voscherau versichert, niemand werde aus dem Schanzenviertel vertrieben. Doch das sehen die überwiegend eher links orientierten Schanzenbewohner anders, die die Pläne mehrheitlich entschieden ablehnen. Sie fürchten deutlich mehr Verkehr durch die Musicalbesucher, stark steigende Mieten, ein ganz anderes Publikum, Verdrängung – also eben die Gentrifizierung, die auch Ottensen bereits verwandelt hat. Die Auseinandersetzung wird rauher, das Klima radikaler, es kommt zu Straßenschlachten von Projektgegnern mit der Polizei, eine Baustelle wird besetzt. Wegen der monatelangen Proteste ziehen die Investoren ihr Vorhaben zurück. Die Musicals feiern stattdessen in einem Neubau an der Holstenstraße Premiere, der „Neuen Flora“.

Was aber geschieht mit der alten „Flora“, die durch den gemeinsamen Widerstand gegen die Musical-Pläne in den Fokus von Bürgerinitiative, Anwohnern und Linksautonomen gerückt ist? Statt des Musical-Tempels soll ein nichtkommerzielles Kulturzentrum entstehen. Die Stadt erlaubt den Aktivisten im August 1989, das 100 Jahre alte Haus vorübergehend als Kulturzentrum zu nutzen. Diese fürchten anschließend die Räumung. Kurzerhand wird die Rote Flora am 1. November 1989 für besetzt erklärt.

Schon Streit um Hafenstraßenhäuser in Hamburg eskalierte

Mit Hausbesetzungen hat man in Hamburg bereits reiche Erfahrung. So ist es nach einer beispiellosen Eskalation des Streits um die Hafenstraßenhäuser gerade erst zwei Jahre her, dass der damalige Bürgermeister Klaus von Dohnanyi die Lage am Hafenrand unter dramatischen Vorzeichen befriedet hat. Vielleicht will man diesen Konflikt nicht durch Eingreifen am Schulterblatt neu entfachen, vielleicht fürchtet man auch in der Schanze eine ähnliche Zuspitzung – jedenfalls verzichtet die Stadt auf eine Räumung.

Zunächst macht das neu entstandene Kulturzentrum allen Anwohnern Angebote, mit einer „Volxküche“, einem Erzählcafé für Anwohner und Erwerbslosenfrühstücken beispielsweise. Doch die „Rotfloristen“ haben zu allererst eine politische Agenda linker, bisweilen linksextremistischer Färbung. Im Kampf gegen Luxussanierungen und Kommerzialisierung des Quartiers sind sich Besetzer und Anwohner einig. Aber als sich in den 1990er Jahren die Drogenszene mehr und mehr ins Viertel verlagert und die Flora eine „Fixerstube“ für Drogenabhängige einrichtet, beklagen sich Anwohner und Gewerbetreibende über die Zustände.

Der Vorwurf: Die Rote Flora ist ein rechtsfreier Raum in staatlichem Besitz

Die Polizei geht gegen Drogenszene vor, die „Rotfloristen“ antworten mit Krawallen. Die Nachbarn sind zunehmend genervt, auch von den regelmäßigen Ausschreitungen. Der Vorwurf, die Rote Flora sei ein rechtsfreier Raum in staatlichem Besitz, macht die Runde. Besonders heftig kracht es Protesten am 1. Mai 2000. Die oppositionelle CDU fordert die Räumung der Flora. Einen Nutzungsvertrag, den der Bezirksamtsleiter den Besetzern anbietet, lehnen diese ab.

Kurz vor den Wahlen versucht der durch den Rechtspopulisten Ronald B. Schill unter Druck geratene SPD-geführte Senat, die Lage zu entschärfen. Er verkauft die Immobilie für 190.000 Euro an den Kulturinvestor Klausmartin Kretschmer. Im Kaufvertrag wird festgelegt, das der neue Besitzer die „Rotfloristen“ dulden muss und das Gebäude unbefristet ein „selbst verwaltetes Stadtteilzentrum“ bleibt. Dankbar zeigen sich diese dafür keineswegs: Unternehmer Kretschmer erhält Hausverbot.

Angebliche Pläne für sechsstöckiges Kulturzentrum machen die Runde

Als Kretschmer ein Jahrzehnt später, mittlerweile in Geldnot, das Gebäude teuer an einen privaten Investor verkaufen will, beginnt ein Poker, der die Politik gewaltig unter Druck setzt. Kretschmer spricht von Kaufangeboten in zweistelliger Millionenhöhe, von Plänen für ein sechsstöckiges Kulturzentrum mit Konzerthalle anstelle des Flora-Gebäudes, er entwirft Räumungs- und Gewaltszenarien, die schwarz-grüne Rathauskoalition in Bedrängnis bringen könnten.

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Ein Kaufangebot vom damaligen Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) über 1,1 Millionen Euro lehnt Kretschmer ab. 2014 wird auch der Bebauungsplan geändert. Kretschmer rutscht in die Insolvenz. Ende 2014 kauft die Lawaetz-Stiftung die Immobilie als Treuhänderin der Stadt Hamburg für 820.000 Euro zurück. Es scheint inzwischen Konsens, dass sich eine Stadtgesellschaft wie die Hamburger ein solches Zentrum der Gegenkultur, Ort unbequemer Debatten und politischer Widerständigkeit leisten kann und sollte.

Hamburgs „Rotfloristen“ führen die neue „Volxküche“ vor

2015 versuchen die Rotfloristen eine vorsichtige Öffnung der Trutzburg in den Stadtteil hinein und kündigen Lesungen und Ausstellungen an, laden sogar Journalisten ein, die über die weißen Wände, kupferfarbene Lampen und liebevoll zusammengepuzzelte Mosaikbilder in der neuen „Volxküche“ berichten. Die Flora wird von Ehrenamtlichen saniert und bekommt einen neuen Anstich.

Nie aber dürfte die Rote Flora so kurz vor der Räumung gestanden haben als nach dem G-20-Gipfel in Hamburg 2017. Es kommt zu schwersten Krawallen im Schanzenviertel, auch vor der Flora. Vermummte Demonstranten lösen Steine und sogar Gehwehplatten aus dem Boden und werfen sie in Richtung der Polizisten. Sie plündern und verwüsten Geschäfte, werfen Scheiben ein, zünden Barrikaden an. Über Stunden bekommt die Polizei die Situation im Schanzenviertel nicht unter Kontrolle. Die Schanzen-Bewohner sind allein mit den Randalierern, mit den Feuern, mit dem Chaos, den Schaulustigen und mit der Angst. Anschließend heißt es, die „Rotfloristen“ hätten die Gewalt erst in die Stadt geholt, aus Protest gegen das Treffen der wichtigsten Staatenlenker der Welt. Schließlich hatten führende Vertreter der Flora die Demonstration „Welcome to Hell“ mitorganisiert, die zum Ausgangspunkt der Gewalt wurde.

Die „Rote Flora“ in jüngster Zeit. Hier wurde auch die sogenannte Pimmelgate um die mutmaßliche Beleidigung des Hamburger Innensenators Andy Grote (SPD) ausgetragen.
Die „Rote Flora“ in jüngster Zeit. Hier wurde auch die sogenannte Pimmelgate um die mutmaßliche Beleidigung des Hamburger Innensenators Andy Grote (SPD) ausgetragen. © Unbekannt | Michael Arning

Im Schock und der Empörung scheint kurz die Existenz der Roten Flora zur Disposition zu stehen. Umso mehr, als der langjährige Flora-Anwalt und Linken-Urgestein Andreas Beuth am Morgen nach den Krawallen unfassbare Worte in die Kamera des NDR spricht: „Wir als Autonome, und ich als Sprecher der Autonomen, haben gewisse Sympathien für solche Aktionen. Aber doch bitte nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also, warum nicht in Pöseldorf oder Blankenese?“ Beuth relativiert seine Worte später, doch sie befeuern die aufgeheizte Diskussion wie ein Brandbeschleuniger.

Nach G-20-Gewaltexzessen in Hamburg droht die Räumung

Olaf Scholz, damals Hamburgs Bürgermeister, gerät durch die Gewaltexzessen schwer unter Druck. War er es doch, der den Gipfel in die Metropole geholt und die Situation für beherrschbar erklärt hat („Wir können die Sicherheit garantieren. Wir werden Gewalt­taten und unfriedliche Kundgebungsverläufe unterbinden.“). Er gibt den „Rotfloristen“ nun eine Mitschuld.

Eine Weile wird verbal schwer aufgerüstet gegen die Rote Flora, doch dann kommt ein Sonderausschuss, der die G-20-Ausschreitungen untersuchen soll, zu dem Ergebnis, dass die Gewalt vorwiegend von ausländischen Extremisten ausgegangen sei, wenn auch lokale Strukturen die unterstützt hätten. Bei den Ausschreitungen selbst habe die Rote Flora keine aktive Rolle gespielt, sagt Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer.

Hamburger Schanzenviertel wird Touristenmagnet – gerade wegen der Roten Flora

Der tiefe Riss zwischen Schanzenbewohnern und Flora, den die Gewalterfahrungen hinterlässt, wird in den folgenden Jahren kleiner. Während der Coronazeit haben Barbesitzer und Geschäftsleute im Viertel eh andere Sorgen. Längst haben sich hier Medienagenturen und andere kreative Branchen angesiedelt. Läden sind schick geworden, die Mieten gestiegen. Das Schulterblatt ist zur Feiermeile geworden, nicht nur am Wochenende tummeln sich auf der Piazza junge Menschen aus Hamburg, dem Umland, aus aller Welt. Die Rote Flora gegenüber ist ein Stück Folklore im Viertel.

Das Musical sollte aus dem Flora-Theater einen Tourismusmagneten machen, der weit über die Stadt hinaus wirkt. Zum Touristenmagnet ist das Schanzenviertel tatsächlich geworden – nicht trotz, sondern auch wegen der Besetzung der Roten Flora.

Hier ist es um den politischen Kampf zuletzt ein wenig ruhiger geworden. Aktuell konstatiert der Hamburger Verfassungsschutzbericht „ein inhaltliches Vakuum“ nach dem Weggang langjähriger Aktivisten, das 2022 nicht wieder gefüllt werden konnte. So „fungierte die Flora im Jahr 2022 mehr als Eventcenter für Musik- und Vortragsveranstaltungen denn als politischer Taktgeber“. Festzuhalten bleibt dennoch, dass die Rote Flora weiterhin „ein Kristallisationspunkt der linksextremistischen Szene in Hamburg mit einem seit Jahrzehnten währenden hohen Symbolfaktor mitbundesweiter Ausstrahlung darstellt.“ Die Geschichte der Roten Flora ist noch nicht zu Ende.