Dierk Strothmann über Tomaten, Tausende Töpfe und Öl ins Feuer gießen
Natürlich ist es keine Art, Menschen, die ins Theater wollen, mit faulen Eiern und Tomaten zu bewerfen, man demoliert auch nicht ihre Autos oder beschmiert sie mit roter Farbe. Darüber waren die Premierengäste des Musicals "Phantom der Oper" am 29. Juni 1990 zu recht empört. Einem Großaufgebot von 3500 Polizisten gelang es nicht, sie so zu schützen, dass sie unbehelligt ihre heiß begehrten Sitze erreichten. Randale, Bürgerwut, Chaos, berechtigte Notwehr, der Fall Flora bietet eine breite Palette von Betrachtungsmöglichkeiten.
Alles begann im Jahr 1888, am Schulterblatt öffnete ein neues Theater. Es hieß zunächst Tivoli-Theater, dann Concerthaus Flora und schließlich Flora-Theater. Bis 1943 gab es dort alles an Unterhaltung zu sehen: Konzerte, Sportveranstaltungen, Revuen, Kabarett, Varieté, Operetten. Generationen von Hamburgern strömten hin und bewunderten unter anderem den mit Hunderten von Sternen übersäten Theaterhimmel.
Und als bei den Bombenangriffen fast die ganze Stadt in Schutt und Asche versank, da blieb die "Flora" wie durch ein Wunder unversehrt. Aber das verhinderte nicht, was dann kam. Erst wurden dort Möbel untergestellt, dann zog ein Kino ein und 1964 das damalige Billig- und heutige Kult-Kaufhaus "1000 Töpfe".
Und dann interessierte sich Musical-Guru Friedrich Kurz in das schon reichlich lädierte Gebäude. Bürgermeister Klaus von Dohnanyi nannte das "einen Glücksfall". Vielleicht wäre es das ja auch geworden, wenn die Politiker behutsamer mit den Bürgern umgegangen wären. Aber die Bedenken der Anwohner, dass ihr Viertel ein Schickimicki-Areal würde, dass die Mieten unbezahlbar würden, die unvermeidbaren Zukunftsängste der Menschen wurden einfach nicht beachtet. Man ließ die Abrissbirne anrücken und machte - unter Polizeischutz, versteht sich - den "Kristallpalast", den historischen Theatersaal, dem Erdboden gleich, damit Kurz dort sein "Phantom" von der Leine lassen konnte. Nur der Eingangsbereich durfte stehen bleiben.
Wie zu erwarten war, eskalierte die Situation. Kurz war daraufhin überhaupt nicht mehr amüsiert und sprang ab. Aus der "Flora" wurde die "Rote Flora", ein bis heute von Eigeninitiative getragenes Stadtteilzentrum, argwöhnisch beäugt von Politik, Polizei und Terroristenjägern.
Ein neuer Standort musste her, damit Hamburg die von "Cats" eroberte Position als "Musicalstadt Nummer eins" verteidigen konnte. Man fand es an der Stresemannstraße, Ecke Alsenstraße. Wer auch immer auf die Idee kam, das Projekt "Neue Flora" zu nennen, goss damit weiteres Öl ins Feuer und prompt wurde dies auch als Provokation empfunden. Wieder hagelte es Bürgerproteste, und bei der Premiere regnete es nicht rote Rosen, sondern faule Eier und Tomaten.
Hätte man das verhindern können? Ich behaupte ja. Vielleicht war es 1987 zu spät, doch man hätte nach dem Krieg die "Flora", nicht sich selbst überlassen dürfen, hätte sie pflegen und hüten müssen. Aber da hatte Hamburg ja immer schon Defizite. Mit den Zeugen der eigenen Geschichte wurde hier immer schon kurzer Prozess gemacht. Manchmal rächt sich das ...