Hamburg. Seit eineinhalb Jahren wird wegen Fernwärme vor dem Bioladen von Thomas Sass in Groß Flottbek gebaut – mit gravierenden Folgen.
Wann Thomas Sass das letzte Mal unbeschwert zur Arbeit in seinem Laden Naturkost Sass erschienen ist, weiß er selbst nicht so genau. Direkt vor dem Geschäft in der Waitzstraße sorgt eine große Baustelle nämlich dafür, dass nach mittlerweile 37-jährigem Bestehen des Bioladens unklar ist, wie viele weitere Jahre noch hinzukommen werden.
„Wenn man bei Google schaut, steht dort, dass die Arbeiten bis 30. Dezember abgeschlossen sein sollen. Daran glaube ich im Leben nicht. Ich rechne eher mit April oder Mai. Sollte sich das Chaos hier bis weit ins Jahr 2024 ziehen, ist unsere Existenz, ja unser familiäres Lebenswerk, bedroht“, erklärt der Inhaber, der das Geschäft mit seinem Vater Hermann betreibt.
Waitzstraße: Bioladen-Inhaber muss langjähriger Mitarbeiterin kündigen
Seit Beginn der Bauarbeiten vor eineinhalb Jahren ist der Umsatz um mehr als 15 Prozent zurückgegangen, sagt Thomas Sass. Das fordert jetzt erste Konsequenzen: Sass musste seiner Mitarbeiterin Doreen Gussek zum 1. Januar 2024 kündigen. „Es war eines der härtesten Gespräche, das ich in letzter Zeit führen musste. Doreen ist meine beste Mitarbeiterin und so etwas wie die gute Seele des Ladens. Wir haben versucht, jeden Cent noch mal umzudrehen, aber die Fixkosten sind nun mal wie sie sind. Wenn ich meinem Vermieter erkläre, dass ich gerne 1000 Euro weniger Miete zahlen möchte, weil es uns dreckig geht, lacht er sich doch kaputt“, erklärt der sichtlich bedrückte Sass.
Auch wenn es Doreen Gussek wehtut, den Laden nach so langer Zeit verlassen zu müssen, einen Groll auf ihren Noch-Chef hegt sie nicht. „Mich ärgert viel mehr, dass uns diese Baustellen schon so lange stören. Die Kunden kommen einfach nicht mehr gut hierher“, sagt Gussek.
Bauarbeiten: Wegen Fernwärmeleitungen muss Strom und Gas umgelegt werden
Die Leitungsbauarbeiten in Groß Flottbek sind Teil der „Südleitung“ des Energieparks Hafen. Diese ist eine Fernwärmetransportleitung, um die klimafreundliche Abwärme aus Industrieprozessen von der Elbinsel Dradenau durch den zukünftigen Fernwärmetunnel unter der Elbe in den Norden der Hansestadt zu transportieren. Ziel ist es, dadurch das Heizkraftwerk Wedel abzulösen.
Das Problem: Weil die beiden Fernwärmeleitungen einen Durchmesser von jeweils 1,10 Meter haben, und somit unter dem Asphalt viel Platz benötigen, müssen andere Versorgungsleitungen wie Strom, Gas, Wasser und Telefon umgelegt werden. Ein aufwendiger Prozess, der langwierige Sperrungen schlicht unumgänglich macht.
Bioladen-Inhaber: „Vollgestaubtes Obst und Gemüse kauft doch niemand“
Mittlerweile beherrschen Lärm, Schmutz und Absperrungen den Alltag bei Naturkost Sass. „Als draußen mit Teer gearbeitet wurde, musste ich erst einmal mein Obst und Gemüse abdecken. Als es im vergangenen Sommer sehr trocken war, staubte es, weil die Bauarbeiter mit der Flex zugange waren. Da musste ich die Arbeiter leider anschreien, doch bitte mal mehr Wasser zu nutzen. Vollgestaubtes Obst und Gemüse kauft doch niemand“, berichtet Sass.
Zwischenzeitlich konnten sogar Fußgänger von der im Westen an die Waitzstraße angrenzenden Groß Flottbeker Straße nicht mehr in die beliebte Einkaufstraße und somit zum Eingang des Bioladens gelangen. Erst vor Kurzem wurde ein Durchgang ermöglicht. „Der Weg ist aber sehr holprig, gerade ältere Kunden sind dort auch schon gestürzt. Sie müssen hier Slalom laufen, um bei uns einkaufen zu können. Das ist eine Zumutung“, prangert Sass an.
Groß Flottbek: Inhaber Sass fürchtet Aus seines Bioladens
Weil viele ältere Menschen zu den Stammkunden zählen, liefert der Naturkostladen die Ware nun auch immer häufiger nach Hause. „Wenn Kunden nicht zu uns kommen können, müssen wir eben zum Kunden kommen. Das wird, seit es die Baustellen gibt, immer mehr angenommen“, erklärt der Inhaber. Not macht eben erfinderisch.
Doch nicht nur Fußgänger müssen wegen der Baustelle mit Problemen kämpfen. Auch die Lieferanten kommen nur mit großer Mühe in die Einkaufsstraße, sagt Sass. „Wenn durch die engen Straßen hier 40-Tonner und Pkws versuchen, irgendwie durchzukommen, gibt es ein Chaos. Wenn hier mal die Feuerwehr durchmuss, wird es zappenduster“, so der Bioladen-Inhaber.
Ausbau des Fernwärmenetzes: Bürgerinitiative sammelte 2020 Einwendungen
Neu ist die Kritik rund um den Ausbau des Fernwärmenetzes in Altona, Othmarschen und den Elbvororten nicht. Eine Bürgerinitiative sammelte bereits 2020 Einwendungen gegen die Trasse. Über seine Sorgen steht Sass auch mit der Interessensgemeinschaft (IG) Waitzstraße im Austausch. So richtig ernst genommen fühlt er sich aber nicht.
Finanzielle Hilfe wäre zwar schön, doch der Wunsch von Sass ist nicht monetär, es geht ihm um die Kommunikation: „Die Arbeiten werden und werden einfach nicht fertig. Ich fühle mich mit meinen Sorgen seitens der Politik nicht gehört. Ich möchte einfach wissen, wie es hier weitergeht, wann die Baustellen verschwinden. Die ziehen hier die Fernwärmetrasse durch, was das für uns im Laden oder für die Anwohner hier bedeutet, ist denen doch schietegal. Hier sind so viele Leute auf 180“, sagt Sass.
Die Kritik von Thomas Sass stößt bei der Gegenseite nur bedingt auf Verständnis. Auf Abendblatt-Anfrage erklärte das Bezirksamt Altona, dass man für die Baustelle vor dem Geschäft nicht zuständig sei und verwies an die Hamburger Energiewerke, welche die neue Fernwärmeleitung verlegen.
Hamburger Energiewerke: Arbeiten auf Groß Flottbeker Straße dauern 2024 an
Der Energiekonzern sagt auf Abendblatt-Anfrage: „Gemäß Planungsstand werden die verschiedenen Leitungsbauarbeiten auf der Groß Flottbeker Straße von der Ecke Waitzstraße in nördliche Richtung das kommende Jahr über andauern und entsprechend zeitlich versetzt in unterschiedlichen Bauabschnitten durchgeführt.“
Die Sprecherin fügt hinzu: „Die Waitzstraße wird in diesem Zeitraum fortwährend befahrbar sein, Parkplätze sind nicht beeinträchtigt. Der Leitungsbau erfolgt in enger Abstimmung mit Polizei und Bezirksamt Altona. Die Hamburger Energiewerke sind seit Wochen in engem Austausch und Abstimmung mit der IG Waitzstraße, um Beeinträchtigungen für die Gewerbetreibenden so gering wie möglich zu halten.“
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Bioladen-Inhaber: „Mein Vater fürchtet um sein Lebenswerk“
Auf eine zeitnahe Verbesserung der Situation kann das Familienunternehmen also nicht hoffen. Und genau das treibt Sorgenfalten auf die Stirn von Thomas Sass. „Jetzt beginnt bald die Vorweihnachts- und Weihnachtszeit. Das ist die umsatzstärkste Zeit, in der wir unsere Enten und Gänse verkaufen. Sollte sich die Situation hier rund um die riesige Baustelle nicht bessern, wäre es der nächste wirtschaftliche Tiefschlag für uns“, so Sass. „Wenn die Arbeiten nicht rechtzeitig fertig werden, dann ist hier Feierabend. Schlafen kann ich schon lange nicht mehr gut, auch mein Vater fürchtet um sein Lebenswerk.“