Hamburg. Bei Astrid Brüggmanns Themenführungen entdecken auch Hamburger ihre Metropole neu – und lernen viele erstaunliche Details kennen.
Augen auf, bitte! Wer angestammte Pfade verlässt, seine Aufmerksamkeit auf Ecken und Kanten richtet, befindet sich auf gutem Weg zur Entdeckertour – mitten in der Großstadt. Hinter den Kulissen lauert oft Erstaunliches. In einer Gruppe bringt genaues Gucken zusätzlichen Spaß. Und wenn dann noch eine Kennerin wie Astrid Brüggmann beim Durchblick hilft, ist das Tor zu einem unterhaltsamen Ereignis geöffnet. Die unkonventionelle Stadtführerin startet dort, wo Reiseführer enden. Auch ihr Werdegang ist eine abwechslungsreiche Geschichte.
Treffpunkt an diesem Sommertag ist ein idyllischer Hinterhof abseits des Ottenser Trubels. In einer alten Druckerei, deren Name damals wie heute Programm ist, arbeiteten früher mehr als 100 Fachkräfte. Geschäftsbücher und feine Formulare wurden nach Übersee exportiert. Heute gibt’s in der Backsteinfabrik Konzerte, Vorlesungen, guten Wein. Wer es genau wissen will, erfährt weitere Überraschungen aus Hamburgs Historie. Bis zum Ausklang im Theater-Geheimtipp „2te Heimat“ im Phoenixhof zwei Stunden später säumen kuriose Details den Wegesrand. Man muss es nur wissen.
Stadttour: Besonderer Rundgang mit einer Kennerin
Wissenswertes faszinierend aufzubereiten, neu zu verpacken und während eines Spaziergangs lebendig zu präsentieren waren Frau Brüggmanns Schlüsselworte beim Aufbruch in die Selbstständigkeit. Vor vier Jahren nahm die gelernte Hotelfachfrau mit Station auch in der Fünfsternehotellerie ihr Herz in die Hand. Ihr Ge-schäftsmotto gilt ein bisschen auch für sie persönlich: Horizontgänger. Ihr Zusatz, auf die Ausflüge gemünzt: schön und anders.
Unter dieser Devise setzte die 52 Jahre alte Unternehmerin mit rheinischen Wurzeln eine Idee in die Tat um. „Eine Wiederholung dessen, was es schon an Stadtführungen gab, wollte ich nicht“, sagt sie. „Und so setzte ich den Schwerpunkt auf meine große Liebe: Kunst und Kultur.“ Mit dem Heimathafen Hamburg im Herzen. Was 2018 mit zwei Touren begann, gibt es nun in acht Varianten. Die neunte („Schatten-Porträts“) bereichert ab September die Palette. „Dabei lasse ich unbekannte, doch überaus interessante Frauen des 19. und 20. Jahrhunderts aus dem Schatten treten“, kündigt Astrid Brüggmann an.
Neue Einblicke und verblüffende Inhalte
Bis Ende dieses Jahres bietet sie noch etwa 150 besondere Stadtführungen an. Zum Beispiel „Hamburg ARTig“ mit hanseatischen Kunstjuwelen am 18. August, „Tierisches Hamburg“ mit Kuriositäten in der städtischen Architektur am heutigen 11. August, „Vergessene Kunstschätze“ am 14. August sowie „Lichtwark-Touren“ am 13. August und 4. September. Die Rundgänge dauern zwischen 90 Minuten und zweieinhalb Stunden. Ticketpreise: 25 bis 38 Euro. Mehr steht im Internet unter www.horizontgaenger.de. Teilnehmerinnen berichten übereinstimmend von neuartigen Einblicken mit verblüffendem Unterhaltungswert.
Ihr Leben schildert die selbstständige Stadtführerin zuvor im Zeitraffer: Nach dem Abitur absolvierte die gebürtige Bonnerin eine Ausbildung im Luxushotel Bachmair am Tegernsee. Zwischen 1993 und 2017 arbeitete sie in Hamburger Hotels, geziert von drei bis fünf Sternen. Darunter befand sich das Louis C. Jacob an der Elbchaussee. Viel Wissen und Erfahrung, kombiniert mit dem Faible für Kunst und Kultur, halfen ihr bei einem beruflichen Neustart. Devise: jetzt oder nie. Sie profitierte von einem feinen Händchen im Umgang mit Menschen und ihrem Organisationstalent. Startpunkt: Appen, eine Gemeinde im Kreis Pinneberg. Gemeinsam mit Ehemann Ulf zog sie in eine reetgedeckte Kate von 1850.
Das Arbeitsamt gewährte ihr Starthilfe
Sie stürzte sich keinesfalls unbedarft ins neuartige Berufsleben. Rat holte sie sich bei Bekannten der „BusinessMoms“. Dieses Netzwerk berufstätiger, kreativer Mütter half in diesem Fall einer kinderlosen Existenzgründerin ein bisschen auf die Sprünge. Julia Schuchardt, Spezialistin für Online-Kommunikation, gestaltete einen sehenswerten, praktisch zu nutzenden Internet-Auftritt. Ein dreiwöchiges „Gründer-Camp“ der Industrie- und Handelskammer Schleswig-Holstein brachte kaufmännisches Rüstzeug. Ein Businessplan gehörte dazu. Und die Mahnung: 80 Prozent scheitern im ersten Jahr. „Stabil geplant ist halb gewonnen“, dachte sich Astrid Brüggmann. Das Arbeitsamt gewährte Starthilfe.
Die Generalprobe absolvierte sie mit vier Freundinnen. Hinterher bat sie bei Kaffee und Kuchen um offenherzige Kritik. Für die Premiere am 1. September 2018 kauften zwei Kunden Karten. „Es ging zäh los“, erinnert sie sich. Doch von Termin zu Termin liefen die „Horizontgänge“ durch Hamburg runder. Stammkunden buchten auch für Touren durch verborgene Werkstätten, blickten Künstlerinnen und Handwerkerinnen aussterbender Berufe über die Schulter, machten sich auf den Weg hinter Theaterbühnen. Wer wissbegierigen Teilnehmern neue Horizonte ebnet, öffnet hinter den Kulissen Türen. Ein Hamburger Gast habe jüngst gesagt, sich wie eine Touristin in der eigenen Stadt gefühlt zu haben. Zugkräftiger als bunte Drucksachen, erfuhr sie durch steten Kundenzuwachs, ist Mundpropaganda. Sie wurde von Firmen und Agenturen sowie für Familienfeiern engagiert. Bis Corona kam.
Coronabedingtes „Berufsverbot“ nutzte sie für ein Buchprojekt
Die Zeit des „Berufsverbots“ nutzte sie für Leidenschaften wie Zeichnen, Malen, beispielsweise mit Moorlauge, Treibholzkunst. Und für Buchprojekte: Auf dem Fahrrad durch den Kreis Pinneberg und Hofladentouren. Zudem entwarf sie neue Konzepte für Horizontgänger. „Der wirtschaftliche Aufschwung in diesem Sommer kommt in meinem Geschäft mit Verspätung an“, bilanziert Astrid Brüggmann. Die Menschen, vermutet sie, „sind ein stückweit von Kultur entwöhnt“. Oder setzen derzeit andere Prioritäten wie Urlaub. Vom ansteigenden Touristenzuspruch in unserer Stadt profitiere sie wenig. Ein Grund: Das Gros der Anmeldungen kommt aus Hamburg und Umgebung.
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„Viele Buchungen für den Spätsommer und Herbst machen dennoch Mut“, sagt sie zum Finale ihrer Tour. Endstation Phoenixhof, das ehemalige Ottenser Eisenwerk. Im Salontheater „2te Heimat“, einer Bühne mit 70 Stühlen, gibt es Kostproben des Programms, eine Suppe, Getränke. „Ich möchte die Gäste nicht schulmeistern und mit Jahreszahlen erschlagen“, bringt Frau Brüggmann ihr Konzept auf den Punkt. Ziel sei die Betrachtung erstaunlicher, hin und wieder wundersamer Details: „Hamburg hat viele versteckte Perlen. Ich spüre sie auf und zeige sie.“ Meist registriere sie Begeisterung bei den Teilnehmern – über ein bis dato unbekanntes Hamburg. Wegen Schietwetters übrigens fiel bisher keine Tour ins Wasser.