Hamburg. Im Sülldorf befindet sich Hamburgs letztes mechanisches Stellwerk. Laien verstehen erst mal nur Bahnhof.

Als es klingelt, geht es für Bodo Ladendorf plötzlich ganz schön rund. Der 63-Jährige nimmt den Hörer ab, lauscht konzentriert, sagt knapp „Jo, alles klar“ – und legt los. Es folgt eine schnelle Abfolge von Handgriffen: Ladendorf kurbelt am sogenannten Felderblock, sprintet an einem Schaltpult entlang, zieht Hebel, drückt Knöpfe und blickt immer wieder in Richtung Bahnsteig.

Der Besuch im letzten mechanisch betriebenen Stellwerk Hamburgs macht Besuchern von Anfang an deutlich: Von alleine funktioniert hier gar nichts. Wachsame Augen und schnelle Beine sind nötig – dazu jede Menge Routine und unerwartet viel Muskelkraft. Die Anlage ist in einem kleinen Backsteinbau im Bahnhof Sülldorf untergebracht – und das schon seit 1927. Und in all den Jahren hat sich hier nur wenig Grundlegendes verändert.

Bahnhof Sülldorf: Fahrdienstleiter Ladendorf seit 10 Jahren im Dienst

Stellwerke sind, wie es in der Fach­sprache heißt, „ortsfeste Bahnanlagen und Steuerzentralen für Weichen sowie Signale und machen somit den Weg auf den Gleisen frei“. Gearbeitet wird hier in drei Schichten mit wechselnden Mitarbeitern, zeitweise kommen und gehen die Züge im Zehnminutentakt. Bodo Ladendorf ist der Fahrdienstleiter und hier seit zehn Jahren im Einsatz.

Wer sich mit der Materie noch nicht beschäftigt hat, versteht bei seinen Erläuterungen erst mal nur Bahnhof. Vereinfacht beschrieben, sehen die Abläufe so aus: Ladendorf zieht die auf der Hebelbank montierten Stellhebel vor und zurück – und damit die Drahtzugleitungen, die mit mehreren Führungs- und Umlenkrollen zu den Außenanlagen verbunden sind. Über sie werden acht Signale, zwei Weichenriegel und außerdem (elektrisch) zwei Weichen bedient. Zum Programm gehört außerdem die Steuerung des letzten bei der S-Bahn vorhandenen Bahnübergangs mit Vollschranken über den Sülldorfer Kirchenweg sowie eine kleine Fußgängerschranke im Zugang zum Bahnsteig.

Stellwerk regelt sicheren Bahnverkehr

Und das Stellwerk hat noch eine andere wichtige Aufgabe: Es stellt die sogenannten Fahrstraßen. „Dieser technisch gesicherte Fahrweg ist die Grundvoraussetzung für einen sicheren und reibungs­losen Bahnverkehr“, sagt Bodo Ladendorf. Das Entscheidende: Eine Fahrstraße muss erst eingestellt, geprüft und gesichert sein, bevor im Stellwerk ein Fahrtsignal gegeben werden kann.

Beim Ortstermin mit dabei ist Matthias Stoppel, seit 2017 Leiter für Betriebsdurchführung und Überwachung bei der Hamburger S-Bahn. Stoppel ist aufmerksam – und strikt. Das Abendblatt-Team darf nur getrennt ins Stellwerk, und die Zeit für Gespräche mit Bodo Ladendorf wird genau eingeteilt. Wenn sich ein Zug ankündigt, ist erstmals Schluss mit lustig, dann zählt nur noch die Arbeit.

Fahrdienstleitung erfordert Konzentration

Das ist absolut nachvollziehbar. Denn die Handgriffe erfordern äußerste Konzentration – auch noch nach Jahren im Dienst. Und: Anders als bei etlichen anderen Berufen geht es hier auch immer um Menschenleben. Einen solchen Job kann man nicht jedem anvertrauen, Fahrdienstleiter müssen einerseits routiniert sein und sich andererseits im Notfall gleichzeitig blitzschnell auf eine veränderte Situation einstellen können.

„O Mann, das geht ganz schön in die Schulter“, sagt Ladendorf, der schon seit 40 Jahren bei der Bahn ist, „gut, dass ich im Training bin.“ Der Zutritt ist für Außenstehende streng verboten, aber der durch die Fenster deutlich zu sehende Einsatz an den Hebeln lockt immer wieder Neugierige an. Neulich habe ein Großvater mit seinem Enkel vor der Tür gestanden und dem kleinen Jungen erklärt, was da drinnen geschieht. Irgendwann hat Ladendorf die Tür aufgemacht und eine Weile offen stehen lassen.

Anlage am Bahnhof Sülldorf fast 100 Jahre alt

„Ich muss ja auch mal lüften“, sagt der Rissener mit Verschwörergrinsen, „außerdem kam ja gerade kein Zug.“ Matthias Stoppel tut, als habe er die Geschichte nicht richtig gehört, und lächelt nachsichtig. Er weiß genau, was er an Mitarbeitern wie Ladendorf hat. „In der Corona-Zeit ist das besonders deutlich geworden“, sagt Soppel. „In unseren Stellwerken haben die Kolleginnen und Kollegen füreinander eingestanden, weitergemacht, den Betrieb am Laufen gehalten. Klasse.“ Da habe es auch keine schwerwiegenden Personalengpässe gegeben, jedenfalls nichts, was den Kundenservice auf diesem Abschnitt beeinträchtigt hätte.

Ladendorf und auch Stoppel sind immer wieder verblüfft, wie perfekt die Anlage, deren wesentliche Bestandteile bald 100 Jahre alt werden, immer noch funktioniert. Zwar wird sie regelmäßig gewartet, aber dass die technischen Abläufe über diese lange Zeit im Kern immer gleich bleiben konnten, finden beide bemerkenswert. Mehr noch: Während seiner gesamten Dienstzeit habe es noch nie schwerwiegendere Probleme mit dem System gegeben, sagt Bodo Ladendorf.

Die Jahre der alten Anlage sind gezählt

Trotzdem sind die Jahre der Anlage gezählt, ganz genau kann allerdings niemand sagen, wann das Aus kommt. Die Gründe liegen auf der Hand: Auch wenn es in Sülldorf in den vergangenen Jahren keine schwerwiegenden Probleme gab, ist das System aus Sicht der Bahn doch deutlich störanfälliger als die modernen Nachfolger. Und für die Mitarbeiter der nächsten Generation sind der Stress und der starke Körpereinsatz kaum noch zumutbar. Hinzu kommt, dass – auch Zeichen der Zeit – immer weniger Menschen mit einem beschrankten Bahnübergang mitten in der Stadt klarkommen. Autofahrer wollen noch schnell rüberfahren, Neu-Sülldorfer stehen als Fußgänger nicht selten ungeduldig und ratlos vor den Schranken. Und immer müssen Ladendorf und seine Kollegen agieren und reagieren.

Neue Zeit: Am Bahnhof Ohlsdorf wird elektronisch überwacht.
Neue Zeit: Am Bahnhof Ohlsdorf wird elektronisch überwacht. © Lisa Knauer | Lisa Knauer

Während in Sülldorf noch jeder einzelne Schritt beobachtet und manuell eingestellt wird, übernimmt andernorts die Technik bereits nahezu die ganze Arbeit. Beispiel S-Bahnhof Ohlsdorf: Seit 2008 wird dort die Strecke zwischen Poppenbüttel und Airport sowie der Stadt elektronisch überwacht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter greifen nur bei Störungen ein.

Digitales Stellwerk in der Hamburger City soll Kapazitäten deutlich erhöhen

In dem Gebäude nahe dem Instandhaltungswerk sieht es wie in einem ganz normalen Büro aus: An zwei Schreibtischen sitzen zwei Fahrdienstleiter vor je sechs Monitoren und kontrollieren den großen Streckenabschnitt. Auf einem größeren Bildschirm wird die gesamte Bereichsübersicht angezeigt, die man sich mithilfe einer Lupenfunktion für bestimmte Abschnitte genauer ansehen kann. In diesem Stellwerk werden die Fahrstraßen per Mausklick gesetzt.

Einen Quantensprung bedeutet auch der Bau des digitalen Stellwerks (DSTW) im Hamburger City-Bereich, das deutlich höhere Kapazitäten im Bahnbetrieb schaffen wird. Der Bund finanziert die Planung mit 31,5 Millionen Euro und ermöglicht damit einen Temposchub bei der Digitalisierung der S-Bahn Hamburg. Im City-Bereich laufen alle Linienäste der S-Bahn zusammen, und das DSTW steht damit – als Nachfolger des elektronischen Stellwerks – für die neueste Technikgeneration. Für ein rund 100 Jahre altes Stellwerk, in dem Hebel gezogen und Weichen verriegelt werden, gibt es dann in Hamburg keinen Platz mehr.