Ottensen. Start des Versuchs „Ottensen macht Platz“: Der Spitzen-Grüne Anjes Tjarks lobt das Projekt. Aber es gibt auch Kritik und Sorgen.
Vor dem Fest rückten im Morgengrauen die Abschleppwagen an. Mehrere Autobesitzer hatten die Verbotsschilder rund um den Spritzenplatz beharrlich ignoriert. Die Abschleppmanöver hatten durchaus Symbolcharakter: Denn für mindestens sechs Monate bleibt das Kerngebiet von Ottensen weitgehend autofrei.
„Für solche Projekte haben wir Jahrzehnte gekämpft“, freute sich Anjes Tjarks, Vorsitzender der Grünen-Fraktion in der Bürgerschaft. Tjarks sieht den Modellversuch „Ottensen macht Platz“ als Blaupause für die von seiner Partei geforderten autofreien Zonen in der Innenstadt. Damit wollen die Grünen im Kampf um Stimmen bei den Bürgerschaftswahlen 2020 punkten. „Ottensen kann zum Leuchtturm der Verkehrswenden werden“, prognostiziert Tjarks.
Das Projekt startete trotz des einsetzenden Regens stimmungsvoll. Anwohner bauten einen Frühstückstisch auf dem extra ausgelegten grünen Kunstrasenteppich auf, Eltern spielten mit ihren Kindern Tischtennis und Tischkicker.
Taxis dürfen in das Viertel
Allerdings beginnt die Nagelprobe erst jetzt nach dem Abbau der Spielgeräte und des Kunstrasens. Denn das Gebiet wird keine echte Fußgängerzone. Lieferverkehr bleibt von 23 bis 11 Uhr erlaubt, dies gilt auch für Paketzusteller, für die Entladezonen an den Rändern der Zone eingerichtet werden – den Rest des Weges müssen die Waren mit Sackkarren transportiert werden. Ausnahmegenehmigungen gibt es für Autofahrer mit einem Stellplatz in der Zone sowie für Menschen mit einer entsprechenden Gehbehinderung. Auch Taxis dürfen immer in das Viertel.
Funktionieren die eingerichteten sogenannten Pick-up-Points an den Rändern der Zone für den Lieferverkehr? Halten sich Autofahrer, die keine Ausnahmegenehmigung haben, an das Einfahrverbot? Respektieren Radfahrer den Vorrang der Fußgänger? Um Antworten auf diese Fragen wird es nun gehen.
Dialog statt Klage gegen das Projekt
Kritiker des Versuchs, die sich in der Initiative „Ottensen bewegt“ organisiert haben, verfolgten am Sonntag die positiven Einschätzungen von Behörden, Bezirks- und Verbandsvertretern mit skeptischen Mienen. „Die Vorbereitungszeit war viel zu kurz“, moniert Anwohner und Verkehrsplaner Klaus Mensing von „Ottensen bewegt“. Er plädiert für ein „autoarmes Quartier“ mit Regelungen für Anwohnerparken sowie schärferen Kontrollen der Parkzeiten: „Wir brauchen ein Mobilitätskonzept für das ganze Quartier. Ein einfaches ,Autos raus‘ reicht nicht.“
Auch manche Gewerbetreibende rechnen mit Problemen. Das Blumengeschäft sorgt sich um die Auslieferung von Blumensträußen, die Reinigung fürchtet den Verlust von Kunden, die nicht mehr mit dem Auto Teppiche und Sofabezüge bis vor die Tür transportieren können. Auch die Fahrschule Boom rechnet mit Umsatzeinbußen, da Motorrad-Fahrschüler wohl nicht mehr direkt von der Fahrschule mit dem Fahrlehrer, der sie in einem Auto begleitet, starten können.
Auf die zunächst erwogene Klage gegen das Projekt will „Ottensen bewegt“ aber verzichten. Stattdessen setzt man auf Dialog, besonders auf die vereinbarten wöchentlichen Besprechungen mit Verantwortlichen des Bezirksamts.
Sorge um die Nachtruhe durch Cornern
Auch Anwohner, die grundsätzlich mit dem Projekt sympathisieren, haben Sorgen. Katharina Schlüter, die seit 30 Jahren an der Ottenser Hauptstraße wohnt und kein eigenes Auto hat, bangt um ihre Nachtruhe durch nächtliche Lieferzeiten. Es sei zudem nicht mehr möglich, mit einem Carsharing-Auto unmittelbar vor ihre Wohnung zu fahren, um dort Einkäufe zu entladen.
Andere sorgen sich vor einer Zunahme des sogenannten Cornerns, das gemeinsame Trinken von zumeist jungen Besuchern des Stadtteils, die sich an Kiosken kostengünstig mit gekühlten Getränken eindecken. Das Bezirksamt lehnt eine Ausweitung der offiziellen Außengastronomie ausdrücklich ab, autofrei bedeute keinesfalls Partymeile.
Mitarbeiter des Instituts für Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität Hamburg (TUHH), beauftragt vom Bezirk mit der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts, werden Anwohner, Gewerbetreibende und Passanten nach ihren Erfahrungen befragen, sich zudem um Verkehrszählungen sowie die Analyse des Parkraums kümmern.
Höhere Belastung für umliegende Straßen?
Manche Kritiker befürchten, dass umliegende Straßen künftig stärker belastet werden, da Autofahrer dann dort einen Parkplatz suchen werden. Von den TUHH-Ergebnissen wird abhängen, ob und wie der Verkehrsversuch weitergeführt wird. Denkbar ist sogar eine Erweiterung des Gebiets (siehe Grafik).
Rainer Schneider, Vorstand beim Verkehrsclub Deutschland (VCD Nord), ist überzeugt, dass das Projekt ein Erfolg wird. Dank des Bahnhofs Altona sowie der Anbindung mit Bussen könne man in Ottensen auf ein Auto verzichten: „Man braucht es nicht.“ Zudem würden „Autos wahnsinnig viel Platz fressen“ – und das in einem Stadtteil, wo der Boden so teuer sei: „Das zahlt die Allgemeinheit.“