Hamburg. Die 40 Mitglieder von HandsUp machten eindrucksvoll auf sich aufmerksam – sie inszenieren Musik mit Gebärdensprache.

Man kann große Augen machen oder seine Ohren spitzen – oder beides auf einmal, je nachdem. Die Gruppe auf der Bühne auf dem Platz der Republik legt derart temperamentvoll los, dass Zugucken Freude bringt. Der kurze Titel sagt mehr als 1000 Worte: „Irgendwie normal“. Und der Name des Chors HandsUp ist Programm: Im Takt wippen Arme, und weiße Handschuhe zischen durch die Luft. Lieder werden nicht mit der Stimme gesungen, sondern mit den Händen dargestellt. Gebärdenpoesie. Der Gesang kommt als Hintergrund vom Band. Applaus von allen Seiten für ein starkes Stück. Motto: „Wenn Hände singen, beginnen Herzen zu tanzen.“

Note und Kunstfertigkeit gewinnen noch an Bedeutung, wenn man die Hintergründe kennt: Bei „HandsUp“ wirken rund 40 Menschen zwischen vier und 60 Jahren mit und ohne Handicap, mit psychischen Erkrankungen oder Sinnes­behinderungen Seite an Seite. Ziel ist ein gemeinsames Ganzes. Diese inklusive Aktion bewegt. In jeder Beziehung. Damit war das 17-tägige Volksfest Altonale auch am finalen Wochenende erlebenswert: Remmidemmi und Krach gehören dazu. Am reizvollsten jedoch sind die Zwischentöne.

Ansteckender Initiativgeist

Und damit sind wir bei Ines Helke angelangt. Die gehörlose Frau mit dem unbändigen Willen und dem ansteckenden Initiativgeist entwickelte aus einem Workshop in Gebärdensprache 2014 – eigentlich gar nicht geplant – einen Chor, der beeindruckender nicht sein könnte. Credo: über sich hinauszuwachsen und gemeinsam Herausragendes zu vollbringen. Kurz gesagt: HandsUp!

Doch lassen wir Ines Helke das Geschehen selbst erzählen. Sie kann das. Trotz hochgradiger Schwerhörigkeit von Geburt an lernte Ines dank exzellenter logopädischer Ausbildung sehr gut zu sprechen. Wenn ihr Gegenüber betont langsam und markant spricht, kann sie die Sätze von den Lippen ablesen. Da heute jedoch viel zu erzählen ist, hilft Silke Fasthoff als Dolmetscherin.

Der preisgekrönte Kinofilm „Gottes vergessene Kinder“ war ihr persönlicher Anstoß, die Gebärdensprache zu erlernen. Fast jedes Land hat eine eigene Gebärdensprache; es gibt weltweit rund 200 verschiedene. Seitdem vermittelt die Kommunikationsassistentin des „Dialogs im Stillen“ in der Speicherstadt gekonnt zwischen den Welten. „Behindert, was ist das?“, fragt Silke Fasthoff. „Alles ist bunt.“ Hoch lebe die Vielfalt.

Unbändiger Kampfgeist

Anfang 1971 als „Neujahrskind“ in Magdeburg zur Welt gekommen, erfuhr Ines Helke erst nach dem Mauerfall, dass auch Gehörlose studieren können. Mit dem Zug reiste sie nach Hamburg. Ihr unbändiger Kampfgeist und ein erstklassiges Netzwerk halfen, einen Lebensweg nach eigenem Gusto zu beschreiten. Hierzulande gibt es etwa 80.000 gehörlose Menschen, rund 2500 in Hamburg. Ines Helke schaffte eine Ausbildung als Erzieherin, ihr Studium der Sozialpädagogik und ein Diplom. Heute arbeitet sie für die alsterdorf assistenz west mit 73 Standorten und 965 Mitarbeitern, eine Tochter der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Ihr Projekt: Gehörlose in den (Arbeits-)Alltag einzugliedern.

Ines Helke, an der nicht nur die Brille ausgefallen und bunt ist, präsentiert sich enorm in Form. Wer nicht beständig quengelt und gelegentlich mit der Faust auf den Tisch haut, so die Erfahrung der ansonsten friedfertigen Frau, kommt nicht ans Ziel. Wir sitzen vor dem „Café Bergtags“ an der Großen Bergstraße in Altona. Es gibt Eiscafé, Brause – und Regen. Vis-à-vis, im „Treffpunkt“ der alsterdorf assistenz west, organisiert Ines Helke regelmäßig Workshops ihres inklusiven Gebärdenchors: nicht nur zum Ausklang der Altonale am gestrigen Sonntag, sondern wieder am 22. August, 17. Oktober oder 21. November, jeweils ab 17 Uhr. „Vorbeikommen und mitmachen kann jeder“, sagt sie. In Harmonie zum Song: „Irgendwie anders und irgendwie normal, kleines bisschen extra, irgendwie egal.“ Dieses motivierende Stück stammt von der Initiative KIDS Hamburg, dem Kompetenz- und Infozentrum Down-Syndrom.

Auftritt mit Rolf Zuckowski

Derweil die Altonale als Plattform sowie für Chorproben genutzt wurde, starten Vorbereitungen für ein inklusives Sommerfest am 16. August und für einen gemeinsamen Auftritt mit dem LiedermacherRolf Zuckowski am 29. August. Denn die Gebärdenpoesie von HandsUp hat Karriere gemacht. Im Sommer vergangenen Jahres stand der Gebärdenchor zusammen mit dem Soulsänger Stefan Gwildis in der Elbphilharmonie auf der Bühne. Am 25. Dezember 2018 folgte ein Auftritt in der ZDF-Weihnachtsshow mit Helene Fischer. Und ganz aktuell wurde Ines Helke von der Zeitschrift „Bild der Frau“ ausgezeichnet – als eine von bundesweit fünf Preisträgerinnen. Die „Goldene Bild der Frau“, Deutschlands bedeutendster Frauenpreis für „Alltags-Heldinnen“, wird am 23. Oktober im Stage Operettenhaus in Hamburg verliehen. Für ihr Projekt erhält Frau Helke 10.000 Euro.

Verständigung macht Spaß: Ines Helke (l.) und die Gebärdendolmetscherin Silke Fasthoff an der Großen Bergstraße in Altona.
Verständigung macht Spaß: Ines Helke (l.) und die Gebärdendolmetscherin Silke Fasthoff an der Großen Bergstraße in Altona. © Roland Magunia

„Das Beste daran“, lässt sie übersetzen: „Wir haben Spaß an HandsUp und den tanzenden Händen.“ Viel Lachen gehöre dazu. Ihr Lebensmotto adoptierte Ines Helke von Astrid Lindgren. Zu Hause in ihrer Wohngemeinschaft im Stadtteil St. Georg hängen Pippi Langstrumpfs Worte an der Wand: „Lass dich nicht unterkriegen. Sei frech und wild und wunderbar.“ Gerade auch, wenn du nicht hören kannst.