Hamburg. Der Senat nominiert den Jüdischen Friedhof Altona für einen Unesco-Titel. Die Gräber sind von bemerkenswerter künstlerischer Qualität.

Still, einsam und auf eigentümliche Weise melancholisch wirkt der Friedhof jenseits der viel befahrenen Altonaer Königstraße an diesem trüben Herbstnachmittag. Die Buchen haben ihr Laub zum großen Teil verloren, das nun wie ein gelber Teppich über den alten Gräbern liegt. Blickt man durch die großen Glasscheiben des Besucherzentrums Eduard-Duckesz-Haus, sind rechts in Reih und Glied die aufrecht stehenden Steine der aschkenasischen Gräber zu erkennen, linkerhand die liegenden der sephardischen Juden.

Das Gräberfeld ist Zeugnis einer besonderen Geschichte: Die Aschkenasen kamen aus Mittel- und Osteuropa, die Sepharden aus Portugal und Spanien, von wo aus sie seit dem späten 15. Jahrhundert fliehen mussten oder auswanderten. Flucht oder Taufe war ihre Alternative; sich als Juden behaupten, oder zwangsweise Christen werden. Viele Juden, auch solche, die zwangsgetauft worden waren, gaben lieber die Heimat auf, um ihrem Glauben treu zu bleiben oder ihn wieder praktizieren zu können. Sie ließen sich in Nordafrika, vor allem aber im Osmanischen Reich nieder, wo ein toleranter Islam herrschte.

Zwangsgetaufte Juden zog es in die Neue Welt

100 Jahre später zog es die in Portugal zwangsgetauften Juden (conversos) nach Bordeaux, Livorno, London, Amsterdam oder Hamburg. Oder in die Neue Welt, zunächst nach Brasilien, bis auch dort, nach dem Sieg der Portugiesen gegen die Niederländer 1654, die Inquisition drohte. Viele gingen dann in die Karibik, wo sie neue Gemeinden gründeten.

„Es war eine Emigration der Eliten“, sagt der Sprachwissenschaftler Michael Studemund-Halévy, „nach Hamburg kamen damals Sepharden, die genau wussten, dass sie hier ihre Geschäfte gut erledigen konnten. Sie hatten eigene Schiffe, gründeten Versicherungen und Banken, führten aber auch ihre Firmen gemeinsam mit Christen.

Und in Hamburg waren sie vor allem dem Senat willkommen, weil diese Kaufleute hervorragende Kontakte in die Neue Welt unterhielten. Der Handel mit Sklaven, Silber, Holz, Branntwein und Tabak brachte damals unermesslichen Reichtum. „Da gestattete man den Juden im lutherischen Hamburg sogar, ihre Kinder aufs Johanneum zu schicken“, sagt Studemund-Halévy, den wir im Eduard-Duckesz-Haus treffen.

Rabbiner Shlomo Bistritzky auf dem Sephardischen Teil des Friedhofs
Rabbiner Shlomo Bistritzky auf dem Sephardischen Teil des Friedhofs © Roland Magunia | Roland Magunia

Der Linguist ist Experte für Judenspanisch, die Sprache der ins Osmanische Reich emigrierten Sepharden. Als Fellow der Hermann-Reemtsma-Stiftung, als Mitarbeiter des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und im Auftrag des Denkmalschutzamtes der Hamburger Kulturbehörde ist er für den Jüdischen Friedhof Altona tätig. Genauer gesagt, für den sephardischen Teil, den aschkenasischen Bereich erforscht sein Kollege, der renommierte Duisburger Judaist Dan Bondy.

Doch es begann mit den Sepharden: Am 31. Mai 1611 hatten drei portugiesische Juden auf dem Altonaer Heuberg ein Stück Land erworben, um hier einen Friedhof einzurichten. Da der Totenkult als Teil der Religionsausübung betrachtet wurde, war es Juden in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert nur unter großen Schwierigkeiten möglich, ihre Toten nach eigenem Ritus beizusetzen.

Gräber sind bemerkenswert künstlerisch

Doch was in Hamburg nicht ging, weil der Rat kein Grundstück „auf ewige Zeiten“ veräußern wollte, das wurde in Altona seit dem frühen 17. Jahrhundert toleriert. Neben dem Gräberfeld der Sepharden kauften daher auch die deutschen Juden, die Aschkenasim, bald ein eigenes Areal. Die Einteilung in einen sephardischen und einen aschkenasischen Bereich besteht bis heute auf dem Friedhof, auf dem bis Ende der 1870er-Jahre fast 9000 Gemeindemitglieder, unter ihnen auch bedeutende Rabbiner und Vertreter über Hamburg hinaus bekannter Familien, beigesetzt wurden. Namen wie de Castro, Mussaphia Fidalgo, Teixeira, Curiel, Eibeschütz, Emden, Heine, Mendelssohn oder Warburg zeugen von der kultur- und geistesgeschichtlichen Bedeutung dieses Friedhofs, dessen Gräber, vor allem im sephardischen Teil, auch von bemerkenswerter künstlerischer Qualität sind.

Glücklicherweise konnte der Friedhof vor der Zerstörung durch die nationalsozialistischen Machthaber bewahrt werden, und obwohl es im Krieg und der Nachkriegszeit zu Schäden kam, blieben von den ursprünglich etwa 9000 Grabsteinen noch mehr als 7000 aschkenasische und ca. 1600 sephardische Steine bzw. Steinfragmente erhalten. Schon seit 1902 wird der Friedhof umfassend erforscht, seit 1960 steht er unter Denkmalschutz, er wird vom Denkmalschutzamt laufend konservatorisch und restauratorisch betreut und ist, seit das Besucherzentrum 2008 eröffnet wurde, zu festen Zeiten öffentlich zugänglich. Wissenschaftlich ist das Gräberfeld nahezu vollständig erfasst, publiziert und zum großen Teil in einer Datenbank jedermann zugänglich.

Verträgt ein Friedhof einen Massenandrang?

Der Lärm von der Straße dringt nur gedämpft in das Eduard-Duckesz-Haus. Fast alle Menschen gehen bei dem trüben Nieselwetter eilig vorbei und werfen bestenfalls einen flüchtigen Blick durch die Gitterstäbe des Eisenzauns, hinter dem sich die Gräberfelder erstrecken. Die meisten Passanten werden nicht ahnen, dass dieser Friedhof weltberühmt ist und womöglich schon in naher Zukunft das Gütesiegel Unesco-Weltkulturerbe tragen wird, wie zum Beispiel die Kathedrale von Chartres, die Altstadt von Florenz, das Taj Mahal und seit 2015 auch die Hamburger Speicherstadt mit dem Kontorhausviertel.

Beth Olam, Haus der Ewigkeit, heißt die hebräische Bezeichnung für Friedhof. Jüdische Gräber sind niemals nur für eine Frist von mehreren Jahrzehnten angelegt, sondern stets auf unbegrenzte Dauer. Die Totenruhe darf zu keiner Zeit gestört werden, bis zum Erscheinen des Messias.

Aber wie verträgt sich ein jüdischer Friedhof mit dem möglichen Massenandrang, der durch das Prädikat Unesco-Weltkulturerbe ausgelöst werden könnte? „Ein jüdischer Friedhof unterliegt eigenen Gesetzen“, sagt Studemund-Halévy, „aber es ist durchaus möglich, diese Gegebenheiten mit den Anforderungen, die an Welterbe-Stätten gestellt werden, in Einklang zu bringen.“ Vor allem aber geht es darum, die Geschichte dieses besonderen Ortes zu erschließen und zu vermitteln, die Steine also zum Sprechen zu bringen. Friedhöfe sind Archive aus Stein.

Schicksale, Lebenswege und Glaubensvorstellungen

Das Altonaer Gräberfeld umfasst Steine, die Auskunft geben über Schicksale, Lebenswege und Glaubensvorstellungen. Wir sehen jüdische und nicht jüdische Symbole, Zeichen, hebräische, spanische, portugiesische, englische und deutsche Inschriften, die Zeugnisse einer jahrhundertealten Geschichte sind. Sie verbindet Hamburg bis heute mit weit entfernten Weltgegenden.

Zum Beispiel mit Curaçao, Barbados, Surinam, Jamaika, St. Thomas oder Puerto Rico. Auf den dortigen jüdischen Friedhöfen gibt es Steine, die genauso so aussehen wie auf dem Altonaer oder dem Amsterdamer Gräberfeld. Die Erklärung dafür ist einfach. „Da man in der Karibik keinen geeigneten Stein fand, bestellte man die Grabsteine in Europa. Starb also im 17. Jahrhundert zum Beispiel ein jüdischer Kaufmann auf Barbados, nutzte seine Familie die Geschäftskontakte nach Hamburg oder London und gab einen Stein in Auftrag, der wunschgemäß angefertigt und dann per Schiff in die Karibik transportiert wurde“, erklärt Studemund-Halévy.

Bei den Steinmetzen handelte es sich wohl um christliche Handwerker, die sowohl für evangelische als auch jüdische Friedhöfe arbeiteten. So lassen sich zum Beispiel gestalterische Parallelen zwischen Grabsteinen vom Kirchhof der St.-Severini-Kirche in Kirchwerder und Grabsteinen auf den jüdischen Friedhöfen in der Karibik feststellen, eine erstaunliche Form früher Globalisierung. Finanziert von der Hermann-Reemtsma-Stiftung und weiteren Stiftungen reist Studemund-Halévy zusammen mit Dan Bondy häufig in die Karibik, um die dortigen jüdischen Friedhöfe zu untersuchen. Und immer wieder stößt er auf steinerne Zeugnisse, die nach Hamburg verweisen.

Es wäre der erste jüdische Friedhof mit Unesco-Titel

Und wie stehen die Chancen für die Aufnahme ins Weltkulturerbe? „Eigentlich müsste es ein Selbstläufer sein“, sagt Studemund-Halévy: „Der Jüdische Friedhof Altona erfüllt alle Kriterien, die für die Aufnahme notwendig sind: Er ist ein herausragendes Geschichtszeugnis mit Grabmälern von hoher künstlerischer Qualität. Er ist öffentlich zugänglich und gehört ganz sicher zu den weltweit am besten erforschten jüdischen Friedhöfen.“

Aber der Experte weiß auch, dass es bei der Aufnahme in die Welterbe-Liste nicht nur um fachliche Kriterien, sondern auch um nationale Befindlichkeiten und um Proporz geht. Weniger vornehm ausgedrückt, könnte man auch von einem orientalischen Basar sprechen, denn immerhin verbindet sich mit dem Welterbe-Siegel hohes Prestige.

Einerseits ist Deutschland mit derzeit 41 Welterbestätten klar überrepräsentiert, andererseits wäre die Aufnahme eines jüdischen Friedhofes ein absolutes Novum. Und da Hamburg dieses Ziel schon sehr lange und zielstrebig verfolgt, ist das Verfahren weit gediehen. Insider sprechen zumindest von einer Fifty-fifty-Chance. Ob Hamburg tatsächlich sein zweites Weltkulturerbe erhält, wird sich wohl erst im Frühsommer 2018 erweisen.