Hamburg. Verstörend für Außenstehende, für Junkies eine Überlebenshilfe: In der Einrichtung Stay alive werden Drogen unter Aufsicht konsumiert.

Bedrückend die Vorstellung, wie sie dort hinter der Glastür auf den schwarzen Plastikstühlen sitzen und sich Heroin spritzen oder im angrenzenden Raum Crack rauchen – unter der Aufsicht von Sozialarbeitern. Für den Notfall, auch falls es zu einer Überdosierung kommt, griff- und einsatzbereit, steht dort am Ende eines Tisches eine große Sauerstoffflasche. Verstörend für den Außenstehenden, für Drogenabhängige eine Überlebenshilfe: Im Stay Alive an der Virchowstraße 15 in Altona können sie ihre Drogen in einem sauberen Umfeld konsumieren statt auf der Straße. Denn das ist gerade auf St. Pauli, in St. Georg und der Sternschanze ein zunehmendes Problem. Die Zahl der Dealer dort hat in den vergangenen Jahren zugenommen.

Noch ist der Drogenkonsumraum leer, weil die Einrichtung erst von Mittag an geöffnet hat. Weiß getünchte Wände, helle Räume statt schummriger Hauseingänge. Hier können die Klienten, wie die Süchtigen hier heißen, ihre Drogen nehmen. Seit 25 Jahren schon. Die Einrichtung feiert Jubiläum.

Said ist einer von 525 Drogenabhängigen, die die 20 Mitarbeiter des Stay Alive im vergangenen Jahr betreut haben. Er war einer von denen, die auf dem Kiez an Drogen und falsche Freunde geraten und nicht mehr vom Kokain losgekommen sind. Der Algerier war cracksüchtig, rauchte Kokain, saß wegen Drogendealerei vier Jahre im Gefängnis. Im Stay Alive ist die Hilfe schnell und unbürokratisch. Es geht, wie der Name sagt, ums Überleben.

Tobias Arnold, Leiter des Stay Alive: „Wir unterstützen unsere Klientel beim Erreichen realistischer Ziele. Duschen, eine regelmäßige Nahrungsaufnahme und mehr Achtsamkeit für den eigenen Körper sind schon Erfolge. Aber wir vermitteln auch in den Entzug und in Therapie, sobald dieser Wunsch besteht.“

Said musste nicht auf einen Termin warten. Stattdessen hat seine Betreuerin ihm geholfen, einen Weg heraus aus der Sucht zu finden. Dort in der ehemaligen Gewürzmühle bieten die Mitarbeiter Beratung, ärztliche Behandlung, Hilfen zum Ausstieg. Sie geben Suchtkranken die Möglichkeit, ihre Drogen unter hygienischen und lebensrettenden Bedingungen zu nehmen. 130.000 Spritzen werden hier pro Jahr getauscht.

Fünf solcher Beratungs- und Konsumeinrichtungen gibt es in Hamburg. Damit steht die Hansestadt im Städtevergleich mit Berlin gut da – die Hauptstadt verfügt laut Antwort auf eine Senatsanfrage bei fast doppelter Einwohnerzahl lediglich über zwei Drogenkonsumräume.

Das Stay Alive war zuvor am Nobistor, später an der Davidstraße und ist seit vier Jahren an der Virchowstraße. 25.000-mal jährlich wird der Druckraum dort genutzt. 75 Klienten kommen im Schnitt pro Tag. Probleme mit der Nachbarschaft gibt es nicht mehr. Bei Schwierigkeiten würde aber sofort ein runder Tisch eingerichtet werden, sagen die Betreiber.

Die Anwohner von Reeperbahn, Talstraße, Hamburger Berg, Simon-von-Utrecht- und Seilerstraße auf St. Pauli wären froh, wenn alle Drogenabhängigen in die Virchowstraße gingen. Denn auf dem Kiez hat sich das Drogen­problem verschärft, die Zahl der Dealer vor den Haustüren und Geschäften nimmt zu, Drogen werden offen auf dem Bürgersteig verkauft und konsumiert. So wurden auf St. Pauli im Jahr 2011 lediglich 780 Rauschgiftvergehen erfasst, im vergangenen Jahr waren es 1629, in der Sternschanze stieg diese Zahl in den vier Jahren von 164 erfassten Fällen auf 655. In St. Georg gab es dagegen nur eine leichte Zunahme auf 2240 Fälle.

Der Drogenhandel in den drei Schwerpunktgebieten stieg ebenfalls kontinuierlich an. Der Bürgerverein St. Pauli forderte einen Druckraum für den Kiez, um die Konsumenten von der Straße zu holen. Seit Beginn der Schwerpunkteinsätze im April auf St. Pauli, in St. Georg und im Schanzenviertel hatte die Polizei 144 Einsätze, 150 Haftbefehle wurden im ersten Halbjahr dieses Jahres erteilt (im Jahr 2015 gab es insgesamt 150 Haftbefehle). Häufig führen solche Einsätze zur Verdrängung, die Drogendealer verlagern ihre Tätigkeiten vorübergehend in benachbarte Straßen, die Konsumenten ziehen hinterher.

Auf den Straßen St. Paulis wird es immer Drogenabhängige geben, sagt Tobias Arnold, Leiter des Stay Alive. Wer heroinabhängig ist, spritzt sich die Droge bis zu dreimal täglich, bei der Kokainsucht kann es viel häufiger sein. Diejenigen, die das auf der Straße tun, seien zu 98 Prozent Klienten des Stay Alive oder des Drob Inn am Hauptbahnhof. Aber sie kommen nicht täglich in die Drogenkonsumräume, „manchmal muss es vor Ort sein oder bei schönem Wetter im Park“, sagt Arnold. Eine Ausweitung der Öffnungszeiten in die Vormittagsstunden und am späten Abend würde helfen, die Abhängigen noch mehr von der Straße zu holen. Doch dafür bräuchte er mehr Geld von der zuständigen Gesundheitsbehörde.

Die Einrichtungen hoffen auf mehr Geld vom Senat

Drogenberatungs- und Konsumräume wie im Stay Alive können die Szene nicht gänzlich von der Straße holen, den Abhängigen aber niedrigschwellige Angebote ermöglichen. „Dadurch wie auch mithilfe aufsuchender Sozialarbeit konnte der offene, auch intravenöse Drogenkonsum deutlich reduziert werden“, sagt Christiane Lieb von der Sucht Hamburg gGmbH.

Mit Sorge sieht Christine Tügel, Geschäftsführerin des Jugendhilfe, dem Träger des Stay Alive, des Drob Inn und des Viva Wandsbek, dem kommenden Jahr entgegen: „Unser Etat ist seit 2010 eingefroren, obwohl die Problematik nicht abgenommen hat. Wir hoffen, dass der Senat finanziell nachsteuert.“ 3,8 Millionen erhalten alle drei Einrichtungen im Jahr.

Said macht zurzeit eine Therapie in der Fachklinik Rothenburgsort. „Ich wusste, wenn ich mit den Drogen weitermache, lande ich wieder in Haft oder sterbe. Ich brauchte Hilfe.“ Er will das durchziehen, auch seinem ungeborenen Sohn zuliebe, der in drei Wochen zur Welt kommen soll. Und keinen süchtigen Vater haben soll.