Hamburg. Standing Ovations in der Neuen Flora bei der Premiere des Musicals Aladdin, ein toll gespielter Farbenrausch mit aktuellen Bezügen.
Sollte ich irgendwann zufällig in den Besitz einer Wunderlampe gelangen, werde ich einen der drei Wünsche, die mein Flaschengeist mir gewährt, bestimmt für die Erklärung opfern, wie die das bloß mit dem Fliegenden Teppich gemacht haben, auf dem Aladdin und seine Angebetete, Prinzessin Jasmin, in schwindelnder Höhe über der Bühne der Neuen Flora das zärtliche Duett „In meiner Welt“ singen.
Dieses erste richtige Date der beiden hübschen jungen Verliebten in der dritten Szene des zweiten Akts (Jasmin: „So eine himmlische Aussicht hatte ich noch nie!“ – Aladdin: „Dann steh erst mal, wo ich steh!“) ist einer der „magischen Momente“, von denen es, so das Versprechen der Macher, in Disneys Aladdin nur so wimmeln soll. Und, ja, das tut es auch. Selbst der finale Kuss nach zweieinhalb Stunden kommt so leidenschaftlich rüber, dass man annehmen möchte, die geläuterte „Gassenratte“ Aladdin (Richard-Salvador Wolff) und das feministisch angehauchte, niedliche Prinzesschen Jasmin (Myrthes Monteiro) seien auch abseits der Bühne ein Paar. Zumindest in der „Gala“, auf jeden Fall aber nur bei uns, im Westen. Denn eine solche Liebe, ein Kuss vor der Ehe, war im Morgenland schon immer heikel. Eher sogar lebensgefährlich, bis heute.
Wodurch diese Geschichte aus der Fantasiestadt Agrabah im Persien des dritten Jahrhunderts – freilich ohne es zu wollen – bei empfindsamen Gemütern in manchen Szenen Assoziationen an die aktuelle Situation der Bevölkerung im Nahen Osten wecken könnte: Wenn etwa Aladdin in der achten Szene des ersten Akts kurz davor ist, durch die Krummsäbel der schwarz gekleideten Palastwachen seinen Kopf zu verlieren. Was ebenfalls das umfangreiche Sicherheitskonzept inklusive Taschenkontrollen erklärt, das die Stage Entertainment mit den zuständigen Behörden ausgearbeitet hat.
Musik bei Aladdin stammt von Alan Menken
Nach dem „Wunder von Bern“ und „Liebe stirbt nie“ ist die Europapremiere von Disneys Aladdin in der Neuen Flora innerhalb von gut zwölf Monaten die dritte große Erstaufführung, die der Musical-Monopolist dem verwöhnten Hamburger Publikum präsentiert. Es handelt sich um die Originalinszenierung des New Amsterdam Theaters am New Yorker Broadway, das seit der Premiere am 20. März 2014 dauerausverkauft ist. Die Musik stammt von Alan Menken ( u. a. „Die Schöne und das Biest“ und „Sister Act“), die Texte lieferten Howar Ashman (u. a. „Arielle, die Meerjungfrau“), Tim Rice (u. a. „Evita“) und Chad Beguelin („The Wedding Singer“), der auch das Buch schrieb. Für die Regie und Choreografie zeichnete Casey Nicholaw („The Book of Mormon“) verantwortlich. Zusammen macht das fünf Tony-Awards, 14 Oscars und viele weitere Nominierungen. Was soll da, bitte schön, schiefgehen?
Bereits in der bombastischen Eröffnungsszene („Arabische Nächte“) gibt Genie (hier Dschinni), der hyperaktive Flaschengeist (Enrico de ge), den Weg für die fröhliche Showkarawane vor. Und von dem werden die 38 Darsteller aus zwölf Nationen nun nicht ein einziges Mal abweichen.
Die adaptierten deutschen Dialoge (Ruth Deny) sind gespickt mit Anspielungen auf die deutsche Unterhaltungsbranche. Weder das „Phantom der Oper“ und Helene Fischer werden verschont noch TV-Shows wie „Let’s Dance“ oder „Geh aufs Ganze!“ Überhaupt geht es sprachlich ununterbrochen flapsig-neudeutsch zu: „Alter!“, ruft Genie, gerade aus der Wunderlampe hinausgerieben, als er und Aladdin sich in der Höhle kennenlernen, „das Beste daran ist, Monsieur ‚Wieso soll ich ein Hemd tragen, da sehen die Chicks meinen Sixpack nicht‘: Du hast drei Wünsche frei!“
Genies Dominanz ist die einzige Schwäche
Vom leicht vertrottelten Sultan (Claus Dam) über den schurkischen Großwesir Dschafar (Ethan Freeman) und seinen teuflischen Berater Jago (Eric Minsk: „Machiavelli ist ein Waisenknabe gegen euch. Wer immer er sein mögen werde ...“) bis hin zu Aladdins Kumpels Babkak, Omar und Kassar (Stefan Tolnai, Pedro Reicher und Phillip Tobias Hägeli): Es passt einfach, ohne Wenn und ohne Aber. Das gilt besonders für Aladdin und Jasmin, vor allem aber für Genie, den eigentlichen und absoluten Star des Abends. Seine Szenen sind so dominant, dass die übrigen, auch die romantischen, ab und zu schon mal verblassen.
Das ist auch die einzige Schwäche dieses Musicals, die man jedoch den Autoren ankreiden muss. Denn sie jagen die Handlung von einem krachenden Höhepunkt und Schenkelklopfer zum nächsten und vernebeln auf diese Weise ab und an die emotionalen, tiefschürfenden Konflikte, die sie ihren Figuren verschrieben hatten: prekäre Lebensumstände sowie verbotene Liebe und unüberwindbare soziale Schranken in einer archaischen Feudalgesellschaft voller Grausamkeiten und Intrigen, die vor einem gewaltsamen Umsturz steht.
Beeindruckender Farbenrausch
Auch die Bühnenbilder und Kostüme sind ein einziger, orgiastischer, atemberaubender Farb- und Glitzerrausch, die Bühnentechnik ist spektakulär. All das wird von der ungeheuer schmissigen Musik (Leitung: Klaus Wilhelm) befeuert und vorangetrieben. So hemmungslos wie auf dieser Bühne wurde im Orient bestimmt noch nie geswingt und gesteppt.
Und wenn am Ende dann Aladdin sein Versprechen erfüllt und Genie aus der Wunderlampe befreit; wenn Dschafar in Sicherungsverwahrung entsorgt ist; wenn Aladdin und Jasmin zueinanderfinden dürfen, weil ihr Vater sein Reich spontan mit einem arabischen Frühling beglückt: Dann wünscht man sich, nachhaltig amüsiert, wie man ist, einen Flaschengeist herbei, der den realen Irrsinn im Nahen Osten sofort stoppen könnte. Ein einziger Wunsch würde dafür vermutlich sogar reichen.
Aladdin Vorstellungen: Dienstag und Mittwoch 18.30, Do bis Sa 20.00, Sonnabend auch 15.00, Sonntag 14.00 und 19.00, Neue Flora (S Holstenstraße), Stresemannstraße 161, Ticket-Hotline 01805 / 44 44