Hamburg. Unter der Führung des DESY sollen sich europäische Wissenschaftler in neuen Großprojekten im Osten engagieren.
Die Stimmung ist auf dem Gefrierpunkt: Zumindest politisch befinden sich Europa und Russland in einer neuen Eiszeit. Vor allem Moskaus Aggression gegen die Ukraine hat das Ost-West-Verhältnis belastet. Besser läuft es in der Wissenschaft: Dort wird die europäisch-russische Vernetzung stellenweise sogar ausgebaut. Hamburg nimmt dabei eine Vorreiterrolle ein: Unter der Führung des Deutschen Elektronen-Synchrotrons (DESY) startete vor Kurzem das Projekt Cremlin. Zum Auftakt trafen sich die Partner aus 13 EU- und sechs russischen Institutionen in Moskau. Die EU fördert das auf drei Jahre angelegte Vorhaben mit knapp zwei Millionen Euro.
Russland sei „extrem wichtig für DESY und für Hamburg“, sagt DESY-Chef Helmut Dosch. Der Physikprofessor verweist insbesondere auf den geplanten neuen Röntgenlaser European XFEL, für den ein 3,4 Kilometer langer Tunnel von Bahrenfeld bis nach Schenefeld gebaut wird. Die Maschine soll Lichtblitze erzeugen, die weniger als 100 Billiardstelsekunden dauern und es möglich machen, ultraschnelle Vorgänge wie die Bildung von Biomolekülen im Detail zu „filmen“. Das ist wichtig, um die Entstehung von Krankheiten besser zu verstehen und neue Medikamente zu entwickeln.
Zum Bau der voraussichtlich 1,2 Milliarden Euro teuren Anlage steuern die Russen mehr als 300 Millionen in Form von Sachleistungen, Personal und Geld bei und sind damit nach Deutschland der zweitgrößte Partner des internationalen Projekts. Hinzu kommt, dass Russland etwa 30 Millionen Euro jährlich in den Betrieb des Röntgenlasers stecken wird. „Die Russen haben dieses Projekt erst möglich gemacht“, sagt Helmut Dosch. „Wir müssen ihr Engagement sehr ernst nehmen und sicherstellen, dass sie davon auch profitieren.“
Bedeutend sei auch das russische Know-how. Ein Teil der Beschleunigertechnik für den Superröntgenlaser wird im Budker-Institut für Kernphysik in Nowosibirsk konstruiert und gebaut. Diese und weitere russische Forschungseinrichtungen verfügten über „Kompetenzen, die für uns hochinteressant sind“, sagt Dosch.
Entsprechend selbstbewusst geben sich seine Kollegen aus dem Osten. Russland sei durch sein Engagement beim European XFEL und weiteren Großprojekten zu einem „unverzichtbaren Teil der europäischen Forschungslandschaft geworden“, sagt Prof. Mikhail Kovalchuk, Direktor des Kurchatov-Instituts in Moskau,
Cremlin soll nun dazu beitragen, dass europäische Forscher künftig auch in neuen Großprojekten mitmischen, die in Russland geplant sind, sagt Projektkoordinator Martin Sandhop vom DESY. Er leitete zuvor das Büro der Helmholtz-Forschungsgemeinschaft in Moskau.
Interessant für Deutschland ist etwa die Neutronenquelle PIK in Gatchina bei St. Petersburg, die ab 2018 unter anderem der Materialforschung dienen soll. Dort könnte man etwa neuartige, poröse Speicher für Wasserstoff untersuchen. Die Neutronen, die das Material durchdringen, könnten den Wasserstoff sichtbar machen und so zeigen, wie gut dessen Speicherung in den Poren funktioniert. Solche Messungen seien zwar auch an deutschen Anlagen möglich, der Bedarf übersteige die zur Verfügung stehenden Messzeiten aber erheblich, sagt Helmut Dosch.
Bedeutend für deutsche Forscher wird auch der neue Teilchenbeschleuniger NICA in Dubna nahe Moskau sein. Mit seiner Hilfe wollen russische und europäische Physiker das extrem heiße Quark-Gluon-Plasma erforschen, das vermutlich im frühen Universum existierte.
Aus Sicht von Dosch kommt es nun darauf an, dass der Zugang zu den Forschungsanlagen so organisiert wird, wie es international üblich ist. Denn verglichen mit Ländern wie Deutschland und den USA haben die Russen bisher eher wenig Erfahrungen mit internationalen Langzeitkooperationen. Der DESY-Chef selbst engagiert sich am Kurchatov-Institut, das ihm für besondere Forschungsleistungen die Ehrendoktorwürde verliehen hatte. Mehrmals pro Jahr leitet Dosch dort ein Beratergremium, das dem Institut bei seiner internationalen Ausrichtung helfen soll.
In Berlin ist man froh über das Hamburger Engagement. „Das Auswärtige Amt bestärkt uns, die Kontakte nach Russland zu pflegen“, sagt Dosch. Die Temperaturen zwischen der EU und Russland sollen ja nicht noch weiter fallen.