Sie rappen ihre Texte, sie erzählen Poesie aus dem Alltag. Das Ziel der Poetry-Slammer sind mehr als 4000 Zuschauer.

Als ich als kleiner Buttje zum ersten Mal in meinem Leben auf dem Fünfer im Ahrensburger Freibad stand, schoben sich meine Füße zögerlich Zentimeter um Zentimeter an den Rand des Sprungturms vor, ich schaute schließlich hinunter aufs hellblaue Wasser im Becken. Von unten drangen die Rufe meiner Freunde an mein Ohr, dass ich ein Feigling wäre und dass ich jetzt verdammt noch mal endlich springen sollte. Nach einer weiteren gefühlten halben Ewigkeit habe ich mich tatsächlich dazu entschlossen. Ich trat hinaus, über den Rand des Sprungbretts.

Ins Nichts.

Ungefähr so fühlte es sich an, als ich zum ersten Mal an einem Poetry-Slam teilnahm.

Das war vor zwei Jahren in der Mathilde gewesen, einem bekannten Literaturcafé, das an der Bogenstraße in Eimsbüttel beheimatet ist und für seine Veranstaltungen berühmt. Es war der allmonatliche „Themenslam“, das einen Monat zuvor angekündigte Thema lautete „Kinder“, und da ich Kinder wirklich gerne mag – vor allem dann, wenn sie schlafen –, bot sich meines Erachtens eine vielversprechende Chance, mich vor den exakt 50 Zuhörern nicht restlos zu blamieren. Denn ich war – und bin es immer noch – kein echter „Poetry-Slammer“, der seinen Text rappen kann. Eine Art Hip-Hop-Literat. Mir fehlt dafür immer das Quantum dramatischen Weltschmerzes, das die jüngeren Autoren in dieser Stadt mit sich herumtragen, und das sie dazu befähigt, sich in Reimen in der zweiten Person minutenlang über rote Ampelmännchen zu echauffieren, von denen sie sich unverstanden fühlen.

Ich war – und bin es immer noch – ein Schreiber, der eigentlich immer bloß Geschichten zu Papier bringt, von denen er glaubt, dass sie seine Leser – in diesem Fall sein Live-Publikum – interessieren könnten.

Und außerdem war ich – und bin es heute noch viel mehr – doch ein alter Sack, der sich nun in einem ziemlich juvenilen, achtköpfigen Teilnehmerfeld wiederfand, mit der Startnummer sieben, was sich im Nachhinein als nicht zu unterschätzender Vorteil in diesem edlen Wettstreit herausstellen sollte. Ich saß nun mittenmang am Autorentisch, kämpfte mit Grauem Burgunder gegen mein rapide steigendes Lampenfieber an und fragte mich nach dem zweiten Gläschen, wieso mein Herz so taktvoll draufloshämmerte.

Die Reaktion ist schrecklich direkt – ohne den Abstand einer Telefonleitung

Herrgott noch mal, dachte ich, das Schreiben von Texten so gut wie aller Art ernährt dich schließlich seit über 30 Jahren! Du musst dich doch nicht verstecken, Schuller! Früher hast du dein Gesicht mehrere Jahre sogar noch zusätzlich in die Fernsehkamera gehalten! Du bist doch eigentlich eine alte Rampensau, hä, hä! Wieso also macht dich diese Situation jetzt bloß so w-a-h-n-s-i-n-n-i-g nervös? Es ist doch nur eine Kurzgeschichte über Kinder. Na ja, in Wahrheit eine höchst persönliche, von eigenen Erziehungsversuchen genährte Betrachtung über die merkwürdigen, bisweilen sogar abstrusen Verhaltensweisen und Erziehungsmaßnahmen von Eltern im Allgemeinen und Müttern im Besonderen.

Ich werde Ihnen verraten, warum der Wein mein Bremsklotz war für das hüpfende Herz: Weil man – im besten Falle – etwas ganz Persönliches von sich preisgibt und die Reaktion des Publikums analog erfolgt. Schrecklich direkt sozusagen, völlig ungefiltert, körpernah. Zwischen dem Autor und seinen Kritikern sind nur ein paar Meter Raumluft und keine Telefonleitung, kein E-Mail-Postfach und schon gar nicht eine (üblicherweise leidgeprüfte) Redaktionssekretärin, die das berechtigte oder unberechtigte Gezeter über einen Artikel immer als Erste ertragen muss. Als volle Breitseite.

Zwar gehört der „Mathilde-Slam“ zu denjenigen Veranstaltungen dieser Art, bei denen das Publikum den Autor, die Autorin nicht gleich sofort nach der ersten misslungenen Wortkaskade von der Bühne buht. Doch trotz dieser Milde tat es irgendwie doppelt weh, als der erste Bewerber um den Verzehrgutschein in Höhe von 20 Euro, ein junger Wirtschaftsinformatiker, tapfer auf dem Sessel Platz nahm und den Slam mit den verhängnisvollen Worten eröffnete: „Wikipedia beschreibt die Kindheit als ...“ Leises Aufstöhnen, Räuspern, das eine oder andere „oh, Mann!“, was sich binnen Sekunden zu einer Melange aus zahllosen gutturalen Geräuschen steigert, die Menschen häufig ausstoßen, wenn sie die Leistung von jemandem im Kollektiv nicht goutieren. Es klang wie eine latent aggressive, akustische Flatulenz, die leider auch die gesamten fünf Minuten, die diese Wikipedia-Interpretation über Kindererziehung dauerte, in der Luft hing. Immerhin konnte dieser junge Literat selbst über seine gestammelten Wortspielereien lachen, von denen er als einziger Anwesender annahm, dass es welche waren. Wir am Autorentisch hielten uns mit offener Kritik zurück – „das schicke sich einfach nicht“, sagte eine Mitstreiterin, als ich, der Rookie unter den Slammern, es dummerweise wagte, kurz mein Gesicht zu verziehen.

Die Sache mit Wikipedia ist nämlich die: Es muss schließlich irgendeinen Grund geben, warum Autoren einen kurzen Text gerade über das Thema X schreiben; einen Text, den sie dann auch noch öffentlich vorlesen oder vortragen und so ihre vielleicht geheimsten Gedankengänge einem Publikum überstülpen. Und Wikipedia gilt ja nun im Allgemeinen als schlau, aber das ist es nicht, wenn man das Hamburger Slam-Publikum von Anfang an fesseln will. Nein, was die erwartungsvollen Zuhörer hören wollen, sind eigene Gedanken und Ideen, eigene Emotionen, Zorn, Trauer, Aggression, eher ein Dagegensein als ein Dafür, Wortwitz, Pointen, überraschende Wendungen, brutalen Zynismus, Selbstironie – und gern auch mal was Ekliges. Kotze, Pisse, Scheiße, Sperma. Wer die Körperflüssigkeiten gut akzentuiert beim Namen nennen kann, liegt in der Gunst des Publikums schon mal weit vorn. Denn so können die Autoren beweisen, dass Grenzen des guten Geschmacks Auslegungssache sind.

Die zweite Regel, die ich an meiner ersten aktiven Poetry-Slam-Teilnahme lernte: Lies auf keinen Fall zu schnell (und trinke maximal zwei Gläser Grauen Burgunder vor dem Auftritt). Ganz ehrlich? Ja, ich sollte am Ende diesen Wettbewerb tatsächlich gewinnen, aber in Wahrheit gab es mindestens zwei Texte, die ich weitaus besser fand als meine Kurzgeschichte über dauerversagende Mütter, dauergenervte Väter und dauerentsetzliche Blagen, die ich konsequent auf Klischees aufgebaut hatte. Aber leider rasten diese beiden Mitstreiter mit schier übermensch­lichem Tempo durch ihre Zeilen, sodass all ihre sorgsam aufgebauten, quietschlustigen Pointen in einem wahren Buchstabensalat untergingen.

Die dritte Regel ist kurz: Freue dich heimlich, wenn du eine hohe Startnummer zugelost bekommst. Nichts fürchtet der Poetry-Slammer mehr als das Vergessen, und wer als Erster ranmuss, setzt die Messlatte. Dann also musste ich ran, an diesem für mich denkwürdigen Abend in der Mathilde. Nummer sieben nahm Platz, stieß sich dabei den Kopf an der Stehlampe, der Sessel ächzte gefährlich, das Mikrofon fiel hinunter und fing an zu piepen. Na, super, was denken die bloß von dir, dachte ich, aber nach einer halben Ewigkeit – es waren knapp zehn Sekunden – befand sich das Mikrofon dank des spontanen Eingreifens durch den Zeremonienmeister Thomas Nast wieder da, wo es hingehörte, und ich begann vorzulesen: „Verantwortungsvolle Mütter wissen, dass man Schulwege, egal, wie weit sie auch sind und welches Wetter herrscht, einem Kind auf keinen Fall zumuten kann. Deshalb wurde das Sport Utility Vehicle – kurz SUV – erfunden ...“

Heute finde ich mein frauen- und mütterfeindliches Pamphlet von damals überhaupt nicht mehr lustig, aber drei, vier Leute im Publikum lachten leise, steckten im Verlauf der Geschichte weitere Zuhörer an, und pro Lacher ging auch meine Herzfrequenz um zwei Prozent hinunter.

Nach vier Minuten und dreißig Sekunden war mein Hemd am Rücken klatschnass geschwitzt, aber es war ein prima Gefühl, sich jetzt wieder aus dem Sessel erheben zu dürfen, während die Mathilde offenbar kochte. Ich wollte nur zurück an den Autorentisch. Zurück zum Grauen Burgunder. Aber, verdammt noch mal, ich war gerade von einem Zehn-Meter-Turm in ein Becken gesprungen, in dem sogar Wasser gewesen war. Und ich war anscheinend nicht untergegangen. Darin liegt wohl ein nahezu unwiderstehlicher Reiz: eine Bühne zu betreten, den Kopf unter ein imaginäres Fallbeil zu legen und dagegen anzulesen, dass die Menge deinen Kopf rollen sehen will.

Weltrekord der Poetry-Slammer

So kommen Sie hin
Der „Best of Poetry Slam Open Air“ findet heute im Rahmen des Hamburger Kultursommers auf der Trabrennbahn Bahrenfeld statt (Luruper Chaussee 30). Erreichbar mit S 1 + S 11 Othmarschen + ShuttleBus oder Bus M1, M2, M3. Einlass 18 Uhr, Beginn um 19.30 Uhr. Karten kosten 28 Euro an der Abendkasse.