Sieben Menschen aus Ottensen erzählen in einem Dokumentarfilm von Jens Huckeriede über ihre Herkunft, Heimat, Multikulti oder Ikea.
Hamburg. Betty Trummer kommt aus einem kleinen katholischen Dorf in Bayern mit sechs Häusern und 30 Einwohnern. Yücel Yelken sieht sich als „Hamburger Türke“ und ist Sohn von Gastarbeitern, die in den 60er-Jahren aus armen Verhältnissen in Istanbul flohen. Ingrid Breckner ist im „Realen Sozialismus“ Rumäniens aufgewachsen und kann West mit Ost vergleichen. Helmut Hülsmeyer ist Jahrgang 1929 und hat noch die Zeit von Fabriken und Schornsteinen miterlebt. Issa Sanfo ist politischer Flüchtling aus Burkina Faso und kämpft nun für Menschenrechte. Sylvia Kucera ist Künstlerin und hat in Marokko oder Alexandria gelebt. Jens Hamann ist bekennender Großstädter und liebt das „Wirrwarr“ in seiner Straße.
All diesen Menschen ist eines gemeinsam: sie leben im Multikulti-Viertel Ottensen. Im Dokumentarfilm „Direkt nach Altona“, der am Sonntag in den Zeise-Kinos gezeigt wurde, sprechen sie über sich, ihre Herkunft, über Heimat, die Verbundenheit mit dem Viertel Ottensen und zugleich mit der Welt. Der Film ist ein Zusammenschnitt von sieben Interviews, die 2010 zum 700sten Geburtstag Ottensens in sieben Schaukästen in der Ottenser Hauptstraße und Bahrenfelder Straße gezeigt wurden.
„Eine Chronik des Viertels soll so entstehen, angedacht ist, alle fünf Jahre neue Interviews zu führen, um nach 50 Jahren dann ein Fazit zu ziehen“, sagt Michael Wendt, Geschäftsführer vom Stadtteil- und Kulturzentrum Motte, das das Filmprojekt gemeinsam mit dem Filmemacher Jens Huckeriede umgesetzt hat. „Veränderung ist unvermeidlich und gehört zum Leben dazu,“ sagt Wendt, „aber wir verlieren hier auch etwas.“ Zum Beispiel sei der Migrantenanteil in Ottensen mittlerweile von etwa 29 auf rund 12 Prozent geschrumpft. Der Zuzug neuer Menschen im Viertel lässt andere Menschen wegziehen.
„Das waren die Rahmenthemen für den Film“, erklärt Filmemacher Huckeriede: „Zuzug, Veränderung, Bleiben, Verweilen, Heimat, Verankerung.“ „Und wir wollten uns mit den Geschichten der Menschen hier auseinandersetzen und darstellen, wie sie das Viertel prägen“, sagt er weiter.
Der Dokumentarfilm „Direkt nach Altona“ schafft die Gratwanderung zwischen dem Aufzeigen eines Heimatbegriffs im Leben der Protagonisten und dem gleichzeitigen Bewahren von Flexibilität im Denken und Handeln. „Ich bin Großstädter, aber Ottensen-Dörfler“, sagt der in Ottensen aufgewachsene Jens Hamann im Interview. Gleichzeitig will Hamann sich seine Erfahrung aus einem Irlandaufenthalt, nämlich selber ein Fremder zu sein, bewahren.
Ihre Heimat haben die porträtierten Menschen ebenso wie der Filmemacher oder das Kulturzentrum Motte im Viertel Ottensen gefunden – jeder aber auf seine Weise. Während sich der eine politisch aktiv zeigt, entscheidet sich der andere bewusst dagegen. Individualität trifft auf den Gedanken von Solidarität und Gemeinschaft. Eine zu starke Veränderung des Stadtteils durch zunehmende Gentrifizierung befürchten aber fast alle Interviewten, zum Beispiel durch den nun doch zu groß gewordenen Neubau von Ikea. Stadt ist Vielfalt und muss auch Platz für Andersartigkeit behalten, so der Tenor. „Und Ottensen ist gelebtes Multikulti, das noch funktioniert“, sagt Motte-Geschäftsführer Wendt.
Die Ottensen-Dokumentation „Direkt nach Altona“ soll in regelmäßigen Abständen gezeigt werden, die nächste Vorführung ist für den 1. April geplant. Die kompletten Interviews sowie der Zusammenschnitt werden voraussichtlich ab Mitte März auch als DVD in den Bücherhallen erhältlich sein. Genaue Termine und weitere Infos unter www.diemotte.de.
(abendblatt.de)