Hamburg. Die Top-Köche sprechen im Abendblatt über Charakter, den Umgang mit Gästen und Mitarbeitern und die Prügel in ihrer Ausbildung.
Die Sonne flutet durch die deckenhohen Fenster des The Table, Kevin Fehlings Drei-Sterne-Restaurant in der HafenCity. Wir sind dort mit Tim Mälzer und dem Hausherrn zum Interview verabredet. „Hamburg ist die beste Stadt der Welt“, sagt Mälzer zufrieden und wendet sich Fehling zu: „Die beste Stadt für Menschen wie uns.“
Menschen wie Fehling und Mälzer, Deutschlands bekanntester Koch und Hamburgs einziger Drei-Sterne-Koch. Der eine wirkt sehr präsent, der andere zurückhaltend. Wie laut oder leise sind sie wirklich? Wir sprechen mit ihnen über ihre Charaktere: „Laut oder leise?“
Tim Mälzer und Kevin Fehling - wer ist der laute, wer der leise Typ?
Tim Mälzer, waren Sie schon von klein auf der Durchsetzungsstarke, der Laute, der Klassensprecher?
Tim Mälzer: Bitte nicht lachen: Ich schätze mich selbst als sehr introvertiert ein. In einer Gruppe gehöre ich zu denen, die zwar dabei sind, sich aber etwas separieren. In Clubs war ich immer der Junge am Tresen, der sich mit einem Bierchen in der Hand alles anguckt. Ich bin schon ein Leiser.
Dafür sind Sie in der Öffentlichkeit aber recht gut vernehmbar.
Tim Mälzer: Diese gelegentliche Dampfplauderei ist vielleicht auch eine Art Schutzmechanismus und ein Versuch, mein Leisesein zu kompensieren. Im Freundeskreis bin ich verhältnismäßig ruhig.
Sie haben keinen Spaß am Lautsein?
Tim Mälzer: Doch, ich mag es schon laut: laute Dinge, laute Farben, laute Musik. Sogar meine Saucen sind manchmal laut. Ich mag auch die Stadt, weil sie laut ist. Ich ziehe daraus Energie und Lebensfreude.
"Ich brauche etwa eine Minute, um zu sehen, welcher Tisch nicht glücklich ist"
Was hat Ihr Erfolg mit Ihrer Lautstärke zu tun?
Tim Mälzer:
Wenig. Meine leisen Facetten sind viel entscheidender. Ich bin ein sehr guter Gastronom, weil ich intensiv beobachte. Ich habe einen Laden mit 140 Sitzplätzen, mit lauter Atmosphäre. Ich brauche ungefähr eine Minute, um zu sehen, welcher Tisch nicht glücklich ist. Das sind oft nur kleine Dinge wie die Körperhaltung. Ich sage dann zum Kellner, geh mal bitte an den Tisch, frag nach. Früher habe ich mich im Laden manchmal in die Ecke gestellt, nur geguckt und diese Geste gemacht. (Hält sich Daumen und Zeigefinger ans Kinn.) Dann wurde das Personal sehr nervös, deshalb mache ich die Geste nicht mehr. Wenn ich leise bin, verunsichere ich Menschen. Ich bin wohl laut-leise.
Kevin Fehling: War das jetzt die eine Antwort auf die Frage?
Tim Mälzer: Ja.
Kevin Fehling: Alter Schwede.
Dann kommen wir jetzt zur zweiten Antwort. Wie würden Sie sich denn einschätzen, Kevin Fehling?
Kevin Fehling: Ich brülle jedenfalls nie. Es ist sicher auch eine Fassade, aber ich wirke meistens wie der liebe Schwiegersohn. Auch als Gast im Restaurant bin ich sehr unkompliziert. Werde ich erkannt, wollen alle etwas Spezielles machen und geben sich besonders viel Mühe. Ich will diesen Wirbel gar nicht. Es stimmt schon ein bisschen, dass ich eher leise auftrete.
Tim Mälzer: Ich widerspreche: Wenn ich darüber nachdenke, empfinde ich dich als lauter als mich.
Kevin Fehling: Ich tue einfach genau das, was ich will, und habe absolutes Vertrauen in meine Kreativität. Laut muss ich dafür nicht sein. Ich bediene halt eher den seriösen Part der Spitzengastronomie. (Zeigt in Richtung Tim Mälzer.)
Tim Mälzer: Das Letzte, was ich tun würde, wäre allerdings, wie du vor den Gästen zu kochen. Kochen ist für mich etwas Intimes, etwas Privates.
Alle lachen
Einen Abend im The Table zu kochen, würde mich wahnsinnig machen
Tim Mälzer: Okay, das ist Quatsch. Ich koche ja auch öffentlich, um den Leuten zu zeigen, wie sie kochen sollen. Aber das hier, bei euch, würde mich wahnsinnig machen. Den ganzen Abend unter Beobachtung zu stehen – das ist eine Art von Lautstärke und Präsenz, die mir zu viel wäre. Ich geh in der Bullerei mal fünf Minuten aus der Küche unter die Gäste, liefere kurz ab, was hier den ganzen Abend gegeben wird, aber dann ziehe ich mich wieder zurück.
Kevin Fehling: Aber unser Konzept baut doch gerade auf Intimität. Das ist die Grundidee von The Table: Ich behandle meine Gäste, wie ich es bei mir zu Hause im Esszimmer tun würde.
Tim Mälzer: Beim Kochen selbst stehe ich nicht gerne im Mittelpunkt. Daher denke ich, wenn wir laut nicht nur als Lautstärke definieren, bin ich der Leise, der Introvertierte, und du, Kevin, der Laute, der Expressive.
Kevin Fehling: Ich wollte einfach irgendwann nicht mehr hinter der verschlossenen Tür kochen, danach die frisch gebügelte Jacke anziehen, so tun, als wäre nichts gewesen, und von Tisch zu Tisch wandern. Dass ich diese ungeschriebenen Gesetze der Spitzengastronomie nicht mehr bedienen muss, ist für mich eine große Erleichterung. Hier entwickeln sich jeden Abend wundervolle persönliche Gespräche.
Tim Mälzer: Und du hast dich über die Länge meiner Antwort beschwert. Ist das die pure Panik, dass du nicht mehr zu Wort kommst?
Kevin Fehling: Ne, ne, Tim. Panik wäre es gewesen, wenn ich nichts Sinniges gesagt hätte.
"Wenn ich eine Hühnersuppe koche, will ich, dass sie perfekt wird"
Wie viel Ruhe braucht man beim Kochen, um Spitzenleistung abzurufen?
Kevin Fehling: Da wir Perfektion abliefern wollen, arbeiten wir sehr diszipliniert. Selbst wenn sechs Köche gleichzeitig da sind, bleibt es auf eine Weise immer ruhig, auch wenn sie ihre Musik dabei hören. Ruhe in diesem Sinn bedeutet, dass wir in einen meditativen Zustand geraten, der es uns erlaubt, fehlerfrei zu arbeiten.
Herr Fehling, ist Ihre Küche analytischer und Tim Mälzers direkter, emotionaler?
Kevin Fehling: In meiner Küche stecken auch starke Emotionen. Wenn meine Mutter für uns Grünkohl kocht, dann fängt sie morgens um 9 Uhr an und steht den ganzen Tag in der Küche. Am Ende sitzt sie mit am Tisch und kann vor Aufregung gar nichts essen. Das passiert hier genauso. Wenn ich eine Hühnersuppe koche, will ich, dass sie perfekt wird. Bester Geschmack, beste Qualität, bestmögliche Herstellung, so lautet mein Anspruch. Das heißt nicht, dass ich analytischer oder besser bin als Tim.
Tim Mälzer: Du bist kontrollierter.
Kevin Fehling: Das stimmt. Ich liebe es, aufwendig zu kochen und anzurichten. Einige denken vielleicht, „Was ist das denn?“, wenn sie im Internet den Teller mit dem Silikonkautschukabdruck einer Gänseleber sehen. Wenn sie dann aber hier sind und bemerken, das ist die beste Gänseleber, die sie je gegessen haben, habe ich die Emotionen geweckt.
Tim Mälzer: Wir haben beide unfassbar viele Facetten. Aber Kevin und mich verbindet der Hang zur Perfektion innerhalb unserer jeweiligen Schaffenswelt. Meine Schlampigkeit ist auch hochprofessionell.
Kevin Fehling: Die ist ja auch gewollt.
Tim Mälzer: Ja, aber ich bin nicht in dem Sinne schlampig, dass es mir egal wäre, was dabei rauskommt. Ich folge lediglich meinem eigenen Chaosprinzip. Und in diesem Chaos herrscht durchaus eine gewisse Ordnung, auch wenn du die nicht sofort erkennst. Wenn du als Gast in die Bullerei gehst, denkst du zuerst, was ist das denn für ein beknacktes Sammelsurium, für eine Materialschlacht, das macht keinen Sinn. Es macht aber Sinn.
Kevin Fehling: Genau, weil es authentisch ist.
Tim Mälzer: Bei mir gehört das Flatterhafte dazu. Wenn ich Dinge kontrollieren kann, wird es langweilig für mich. Da unterscheiden wir uns. Ich habe sechs oder sieben Gastronomiekonzepte gemacht, da war keins wie das andere. Ich bin immer wieder raus aus der Komfortzone, habe immer wieder alles komplett umgeschmissen. Manchmal denke ich auch: „Tim, halt doch mal die Schnauze und mach einfach dasselbe noch mal“ – vielleicht habe ich auch eine Art ADHS.
"Zu Beginn der Corona-Krise dachte ich, was soll ich jetzt mit dem Scheißladen"
Ihr Restaurant Die Gute Botschaft haben Sie ebenfalls komplett umgekrempelt …
Tim Mälzer: Komplett, ja. Zu Beginn der Corona-Krise dachte ich, was soll ich jetzt mit dem Scheißladen, in dieser Scheißsituation, in dieser Scheißatmosphäre. Ich dachte daran zuzumachen. Aber dann habe ich gemerkt, dass das eigentlich gar nicht mein Wunsch war, sondern nur die äußeren Umstände mich so denken ließen. Deswegen geht es jetzt weiter, aber eben anders.
Kevin Fehling: Während des ersten Lockdowns war ich neun Wochen komplett zu Hause. In den ersten vier Wochen fühlte ich mich manchmal wie ein gestörter Tiger im Käfig. Wir hatten gerade sehr viel Geld in die Bar reingesteckt. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Alles, was ich mir bis dahin vorgenommen hatte, hatte ich erreicht. Corona hat mir dann die Schuhe ausgezogen. Dabei hatte ich mir immer eine Auszeit gewünscht. Seit meinem 17. Lebensjahr arbeite ich wie ein Tier, manchmal 14 bis 15 Stunden am Tag. Dann kommt diese Auszeit, und ich kann sie nicht nutzen. In meinem Kopf war alles nur negativ. Dann habe ich mir gesagt, ich kann es eh nicht steuern, jetzt werden wir wieder kreativ. Meine Köche und ich, wir haben uns dann einmal die Woche zu dritt getroffen, gute Ware bestellt, bei einem Gläschen Wein neue Gerichte kreiert und gehofft, dass der Spuk irgendwann wieder vorbei ist.
Tim Mälzer: Bei mir war es ebenso. Ich habe realisiert, ich muss Gastronomie anders betreiben. Nicht mehr aus dem Bauch raus, sondern meinen Kopf anstrengen und mich mit Situationen auseinandersetzen, die ich nicht freiwillig gewählt habe. Ich habe alles auf null gesetzt. Ich bin mit brachialer Kreativität in diese Phase reingegangen. So war Corona irgendwann kein Feind mehr.
"Für mich wäre die enorme Popularität von Tim das Schlimmste"
Sie sagten, dass Sie in unterschiedlichen Welten Perfektion anstreben. Was wäre die größte Herausforderung, wenn Sie Rollen tauschen müssten?
Kevin Fehling: Für mich wäre das Schlimmste die enorme Popularität von Tim. Es ist für mich eine furchtbare Vorstellung, dass ich auf einen Flug warte, und jemand macht halb heimlich ein Selfie und schickt es dann an die Freundin: „Hey, Tim Mälzer steht zwei Reihen vor mir.“ Im Restaurant werde ich schon mal erkannt, aber ich habe noch eine Privatsphäre.
Tim Mälzer: Ich glaube, deine größte Herausforderung wäre es, meine Handschrift nicht zu verändern. Genau das Problem hätte ich umgekehrt auch. Ich würde da anders rangehen. Wenn ich jetzt hier kochen müsste, würde ich mich mit jeder Zelle meines Körpers dagegen sträuben. Ich glaube, wir beide würden uns nach so einem Tag in einer Bar treffen und uns aus derselben Motivation heraus betrinken wollen. Wir arbeiten ja mit der gleichen Leidenschaft. Nur ist die Anerkennung bei mir die Straße und für dich, Kevin, sind es die drei Sterne. So soll es bleiben.
"Ich wurde in der Küche extrem erniedrigt und beleidigt"
Koch zu werden gilt als harte Schule, der Ton ist rau. Wie haben Sie das während Ihrer Ausbildung erlebt?
Kevin Fehling: Als ich mit 18 irgendwo in der Küche stand, gab‘s für Fehler schon mal einen Tritt gegen das Schienbein. Mir wurde der Arm umgedreht, ich wurde in die Ecke geschubst, da wurde es sehr laut. Damals war das gefühlt normal. Das hat mich nicht von meinem Ziel abgebracht. Ich wollte von Beginn an schnell weiterkommen. Mit 19 fasste ich den Vorsatz, irgendwann einen Stern zu erhalten. Mit 27 war ich Küchenchef. Ich wollte es anders machen und meine Mitarbeiter positiv motivieren.
Tim Mälzer: Ich habe hier in Hamburg im InterConti gelernt und hatte einen herausragenden Ausbilder, mit dem mich eine Art Hassliebe verband. Das Team war toll. Da war viel Energie im Raum. Dann bin ich nach London gegangen und habe im Ritz gearbeitet. Da habe ich das Gleiche erlebt wie Kevin, nur potenziert. Leute wurden sogar zusammengeschlagen. Ich nicht, ich war ein ganz wehrhaftes Kerlchen, aber ich wurde verbal extrem erniedrigt und beleidigt. Die Aggressivität in der Küche damals in London war krass. Ich wollte den Beruf hinschmeißen. Dann kam ich glücklicherweise zu Gennaro Contaldo, der zu einer Art Mentor wurde. Gennaro hat mir seine Welt des Kochens gezeigt. Es ist die, die mich mit ihrer Emotionalität und haptischen Herangehensweise bis heute am stärksten prägt. Dadurch kam die Leidenschaft zurück. Heute achte ich in der Bullerei sehr auf den Ton. Wenn ich erlebe, dass einer einen anderen „Arschloch“ nennt, fliegt er raus. Verbale Beleidigungen werden nicht akzeptiert.
"Wir gehören zu den geschlagenen Kindern, die selber aufgehört haben zu schlagen"
Kevin Fehling: Bei uns auch nicht, null Komma null.
Tim Mälzer: Wir gehören zu den geschlagenen Kindern, die selber aufgehört haben zu schlagen.
Wenn Sie beide sich zum Essen verabreden würden, wo gehen Sie hin?
Kevin Fehling: Zum Italiener, würde ich sagen.
Wir würden uns im Nikkei Nine treffen oder im San Michele
Tim Mälzer: Ich könnte mir vorstellen, dass wir ins Nikkei Nine gehen würden, vom Ambiente, der Leichtigkeit mit gewissem Anspruch, eine gute Weinkarte, das ist eine schöne impulsive Küche, über die man nicht viel nachdenken muss, die uns beide in der Mitte aber irgendwie abholt. Oder ins San Michele. Ein typischer Nachbarschaftsitaliener. Der Koch ist wie ich, nur 20 Zentimeter kleiner und noch dicker. Er kocht authentisch und auf bezaubernde Art und Weise nicht kreativ. Produktorientiert, frisch, auf den Moment und perfekt. So, ich muss los, aber eine Frage habe ich noch an dich, Kevin: Stabmuscheln, wie bereite ich die zu, sodass sie nicht gummiartig und zäh werden?
Kevin Fehling: Du ritzt sie einfach auf und schwenkst sie dann in 60 Grad warmer Butter mit ein bisschen Salz und ein bisschen Pfeffer. Dann schmeißt du sie in die Pasta. Das ist aber kein Rezept für hier, eher etwas für zu Hause.
Tim Mälzer: Ich dachte mir, dass du das so siehst.