Krisen und Kriege wohin man blickt. Die schlimmen Nachrichten saugen uns förmlich aus. Oder lassen wir uns nur zu sehr hängen? Ein Zwischenruf.

Wer in diesen Tagen regelmäßig die neuesten Nachrichten verfolgt, ob per Tageszeitung, Internet oder Fernsehen, der braucht schon eine gehörige Portion psychische Widerstandskraft. Der Krieg zwischen den Hamas-Terroristen und Israel mit schon jetzt Tausenden Toten produziert Meldungen und Bilder von einer Grausamkeit, die unser emotionales Fassungsvermögen übersteigen. Dabei hatten wir doch nach eineinhalb Jahren Ukraine-Krieg gerade gelernt, die Schreckensmeldungen aus Butscha, Kiew oder Mariupol wenn nicht auszublenden, so doch in den Hintergrund des Bewusstseins zu rücken – ein Prozess der Gewöhnung (um das böse Wort von der Abstumpfung zu vermeiden). Und nun also Nahost, wo nach Einschätzung von Experten und Kommentatoren ein „Flächenbrand“ droht; sogar die Ausweitung zu einem weltweiten Konflikt wird nicht ausgeschlossen.

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Ich-bezogene Larmoyanz

Krieg in der Ukraine und in Nahost, Kriegsgefahr in China und Taiwan, blutige Putsche in Afrika, verheerende Erdbeben in der Türkei und in Afghanistan, die aktuell wieder wachsende Bedrohung durch Terroristen in Westeuropa. Dazu die auch hierzulande immer spürbarer werdenden Auswirkungen der Klimakrise sowie der Migrationsströme Richtung Europa. All diese Ereignisse prasseln ständig auf uns ein, und wer hätte sich bei den Krisen-Talks von Anne Will bis Sandra Maischberger noch nicht gefragt, wie wir, ob Jung oder Alt, das alles verarbeiten und letztlich verkraften sollen?

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Das ein heftiges Erdbeben viele Regionen in Afghanistan erschüttert hat und zahlreiche Menschen auf der Flucht sind, geht in der aktuellen Nachrichtenlage in Deutschland fast unter.
Das ein heftiges Erdbeben viele Regionen in Afghanistan erschüttert hat und zahlreiche Menschen auf der Flucht sind, geht in der aktuellen Nachrichtenlage in Deutschland fast unter. © IMAGO/ABACAPRESS | IMAGO/Middle East Images/ABACA

Doch es stellt sich noch ein Frage: Haben wir in unserem vergleichsweise immer noch bequemen und behüteten Leben im Westen überhaupt das Recht, uns über unsere krisenbedingten, diffusen Ängste und Sorgen zu beklagen? Ist das nicht eine unangebrachte, ich-bezogene Larmoyanz, angesichts der furchtbaren Leiden der Menschen in den Luftschutzbunkern von Kiew, der Geiseln in den Hamas-Tunnel im Boden von Gaza und der obdachlos gewordenen Erdbebenopfer in den Zelten in Afghanistan? Sind wir alle Weicheier?

So einfach ist das wohl nicht. Tatsächlich sehen Forscher die Nation in einem Zustand akuter Erschöpfung. „Wir erkennen jetzt erst im vollen Umfang, wie ungeheuer kräftezehrend die drei Corona-Jahre gewesen sind“, sagt der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, der kürzlich, noch vor Ausbruch der Kämpfe ins Israel und Gaza, die Trendstudie „Jugend in Deutschland“ mitveröffentlichte. Nach der Pandemie hätte man unbedingt erstmal eine längere Erholungsphase gebraucht, so Hurrelmann.

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Die „german Angst“ geht um

Klimawandel: Baumsterben im Nationalpark Harz nahe des Brocken. Viele Menschen fühlen sich von den Krisen mittlerweile überfordert.
Klimawandel: Baumsterben im Nationalpark Harz nahe des Brocken. Viele Menschen fühlen sich von den Krisen mittlerweile überfordert. © imago/Martin Wagner | IMAGO/Martin Wagner

Doch stattdessen wurde Corona unmittelbar von dem nicht enden wollenden Krieg Russlands gegen die Ukraine abgelöst, verbunden mit Inflationsängsten und starken Flüchtlingsbewegungen. Und nun auch noch der Schrecken in Nahost. Experte Hurrelmann spricht von einem kollektiven „Ohnmachtsgefühl“. Viele hätten den Eindruck: Immer wieder kommt etwas dazwischen, das man selbst nicht beeinflussen kann: „Dadurch leidet gleichsam die ganze Gesellschaft an einer posttraumatischen Belastungsstörung.“ Die Pandemie als Trauma, das uns nicht loslässt

Spricht da aus uns die schon fast sprichwörtliche „german Angst“, also der notorisch bange Blick angesichts ungewisser Aussichten? Geht es nicht eine Nummer kleiner?

Vielleicht. Aber die Deutschen sind nicht allein mit ihrer Furcht. Denn fast zwei von drei Menschen in der gesamten EU fühlen sich durch die Ereignisse der Welt einer Umfrage zufolge psychisch belastet. Ereignisse wie die Corona-Pandemie, Russlands Krieg gegen die Ukraine oder die Klimakrise hätten die ohnehin schon instabile psychische Verfassung in Europa weiter erschüttert, so die EU-Kommission. Sie hatte eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben, wonach 62 Prozent der Befragten antworteten, solche Ereignisse beeinflussten „etwas“ bis „sehr“ ihre psychische Gesundheit.

„Die Bedrohung ist geblieben“

Ähnlich sieht es der Psychologe Winfried Rief von der Universität Marburg. „Ich habe so etwas in meinem ganzen Leben – und ich bin jetzt 64 – noch nicht mitgemacht“, sagt er. „Was es so schwierig macht, ist, dass wir auf der psychologischen Ressourcenseite mittlerweile extrem schwach sind. Wir haben in den letzten Jahren mit Corona eine lebensgefährliche Bedrohung mitgemacht und uns davon eigentlich nicht mehr erholt. Die Themen haben sich geändert, aber der Bedrohungszustand ist geblieben.“

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Aber der Alltag macht auch keine Pause, und unser Leben geht weiter. Wie also, ganz konkret, umgehen mit einem „diffusen Grundgefühl der Bedrohung und Endzeitstimmung“, wie es in einer Studie des Rheingold-Instituts heißt, die auf „tiefenpsychologischen Interviews“ fußt? Die Antwort der Forscher: Viele Deutsche ziehen sich als Reaktion auf die Krisenkaskade mehr und mehr ins Private zurück. Um sich selbst zu schützen, verengten die Menschen ihren Fokus auf die persönliche Lebenswelt. „Das ist, als würde ein Verdrängungsvorhang heruntergelassen“, sagt Institutsleiter und Bestsellerautor Stephan Grünewald („Wie tickt Deutschland?“).

Aus dem Kokon wieder ausbrechen

Natürlich hat es früher auch Krisen gegeben. Aber die derzeitige Situation unterscheidet sich davon in zwei zentralen Punkten fundamental: Erstens ist die aktuelle Überlagerung verschiedenster Miseren in der bundesdeutschen Geschichte ohne Beispiel. Zweitens ist diesmal kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht. Das gilt für Ukraine-Krieg und Nahost-Konflikt, erst recht für den Klimawandel und auch für die globalen Migrationsbewegungen. Eine repräsentative Studie der TUI-Stiftung ergab dieses Jahr: Von 7000 befragten 16- bis 26-Jährigen in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland und Polen glauben nur 22 Prozent, dass es ihnen einmal besser gehen wird als ihren Eltern.

Nach Klima, Corona und Ukraine droht nun der Nahe Osten zu explodieren. Israelische Soldaten arbeiten an einem Panzer an der Grenze zwischen Israel und Gaza.
Nach Klima, Corona und Ukraine droht nun der Nahe Osten zu explodieren. Israelische Soldaten arbeiten an einem Panzer an der Grenze zwischen Israel und Gaza. © dpa | Ilia Yefimovich

Was müsste also geschehen, um dem entgegenzuwirken? Psychologen fordern, sich aus dem selbst gesponnenen Kokon zu befreien und wieder mehr gemeinsame, positive Ziel zu definieren, weniger mit Verboten und Schuldzuweisungen zu arbeiten. „Wir reden zum Beispiel oft über die ,Klima-Wende’, so der Marburger Winfried Rief. „Dieser Begriff impliziert, dass ich mich komplett ändern und eine 180-Grad-Drehung machen muss. Das ist einfach zu radikal. Wir müssen uns verändern, aber wir müssen dabei einen gemeinsamen Weg gehen. Wir brauchen mehr Wir-Gefühl“, lautet Riefs Appell. Und der Forscher Hurrelmann betont insbesondere, dass die Regierung den Bürgerinnen und Bürgern beispielsweise bei der Umsetzung des gemeinsamen Ziels Klimaschutz mehr eigenen Spielraum lassen müsse. Anstatt bis ins Detail vorzuschreiben, wie die Energiewende umzusetzen ist, müsse die Ampel kreative Energien in der Bevölkerung freisetzen.

„Den Hintern hochkriegen“

Die Regierung soll’s also richten. Klingt, nun ja, auch wieder ein bisschen typisch deutsch. Und wie sollen die Scholzens, Habecks und Lindners uns aus unserem psychischen Tief retten, wenn sie es nicht einmal fertigbringen, ein vergleichsweise simples Heizungsgesetz unfallfrei über die Rampe zu schieben? Nein, da sind wir schon selbst gefragt. In diesen Tagen erzählte mir eine Nachbarin, angesichts der Schreckensbilder aus Gaza habe sie beschlossen umzusetzen, was ihr schon lange im Kopf herumgehe: Sie werde sich bei einer Initiative in unserer Stadt engagieren, die sie um Flüchtlinge kümmert, ihnen bei der Behördengängen und Alltagsdingen hilft. „Jammern hilft ja nix“, sagte die Nachbarin, „man muss den Hintern hochkriegen.“

Eigentlich gar kein schlechtes Rezept. Auch wenn es die täglichen Nachrichten nicht erträglicher macht.

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei.Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.