Berlin. Betriebe klagen über zu viele krankgemeldete Arbeitnehmer. Eine neue Regel könnte Abhilfe schaffen. Andere Länder sind schon weiter.
Grippe, Corona, Erkältungen, psychische Erkrankungen: Viele Arbeitgeber verzeichnen in diesem Jahr hohe Krankenstände. Noch vor den großen Infektionswellen im Winter sind die Krankschreibungen auf ein Rekordniveau geklettert. Um diesen Trend einzudämmen, rückt ein erfolgreiches Modell aus Skandinavien als Vorbild für Deutschland in die Diskussion: die Teilkrankschreibung oder Teilarbeitsunfähigkeit.
Der entscheidende Unterschied: In Deutschland gilt man entweder als arbeitsfähig oder arbeitsunfähig. Wer krank ist, ist krank und darf nicht arbeiten. Null Stunden. Mit einer Ausnahme: Betriebliche Eingliederungsmaßnahmen nach längerer Arbeitsunfähigkeit (AU) – wie dem Hamburger Modell. In skandinavischen Ländern kann man sich dagegen auch teil-krankschreiben lassen – und trotz Krankheit eingeschränkt weiterarbeiten.
Der Präsident der Bundesärztekammer zeigt sich für Teilkrankschreibungen angesichts der heutigen Homeoffice-Möglichkeiten auch für Deutschland grundsätzlich offen: „Eine praktikable Form von Teilzeitkrankschreibung für einige Stunden täglich könnte den neuen Möglichkeiten Rechnung tragen und für mehr Flexibilität sorgen“, sagte Klaus Reinhardt dieser Redaktion.
Krank: Homeoffice eröffnet neue Möglichkeiten
Die Arbeitswelt habe sich in den letzten Jahren sehr stark verändert, insbesondere durch die Digitalisierung und die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten. „Trotzdem unterscheiden wir in unserem Gesundheitswesen weiterhin grundsätzlich zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit“, sagte Reinhardt dieser Redaktion. „Klar ist natürlich“, unterstreicht der Ärztepräsident, „dass dabei das Wohlergehen und die ungefährdete Genesung der Erkrankten immer an erster Stelle stehen muss.“
Als Beispiel nennt Reinhardt „Bagatellinfekte“, bei denen der direkte Kontakt mit Kollegen im Büro vermieden werden sollte. „In solchen Fällen bietet das Arbeiten im Home-Office aber unter Umständen die Möglichkeit, in begrenztem Umfang berufliche Aufgaben wahrzunehmen und sich dennoch zu erholen“, so der Präsident. Zudem habe man „gute Erfahrungen mit Wiedereingliederungsprogrammen nach langen Krankheitsphasen gemacht, bei denen die Arbeitszeit schrittweise erhöht wird. Diese Erfahrungen ließen sich sicher auch auf weniger schwere Erkrankungen übertragen.“
Anders als in Deutschland setzen skandinavische Länder seit Jahrzehnten auch auf Teilkrankschreibungen – wie Schweden. Mit der Einführung der Teil-AU konnte Schweden nicht nur die Höhe der Arbeitsunfähigkeit reduzieren, sondern auch die Krankengeldzahlungen. Rund ein Drittel der Krankgeschriebenen nutzen Teilkrankschreibungen.
Krankschreibung: So ist sie in Schweden möglich
Je nach Krankheit kann in Schweden die Arbeitsfähigkeit bei 25, 50 oder 75 Prozent eingestuft werden. Ärzte stellen dabei die Diagnose, beurteilen das Arbeitsvermögen. Basis dafür sind Leitlinien der staatlichen Sozialversicherung, die mit Ärzten entwickelt wurden. Die Sozialversicherung entscheidet dann über die Höhe der Arbeitsfähigkeit auf Empfehlung der Ärzte.
Warum das System erfolgreich ist? Anders als in Deutschland erhalten Schweden von ihrem Arbeitgeber nur zwei Wochen lang etwa 80 Prozent ihres Gehalts als Krankengeld, danach tritt die staatliche Sozialversicherung Försäkringskassan ein. Manche möchten wohl auch deshalb teilweise arbeiten, um die eigenen Lohnverluste zu begrenzen.
Anders in Deutschland: Festangestellte bekommen in der Regel vom ersten Tag der Krankheit ihr Gehalt in voller Höhe sechs Wochen lang vom Arbeitgeber bezahlt. Danach zahlen die Krankenkassen etwa 70 Prozent des Bruttogehalts als Krankengeld – bis zu 78 Wochen innerhalb von drei Jahren.
Krank: Deutschland hat die großzügigste Lohnfortzahlung der Welt
Diese Regelung könnte laut ZEW-Arbeitsmarktexperten Nicolas Ziebarth ein Grund für den hohen Krankenstand sein: „Deutschland hat mit seiner sechs Wochen langen 100-prozentigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eines der großzügigsten Lohnfortzahlungssysteme der Welt.“ Dadurch könne es dazu kommen, dass sich manche schon bei leichter Erkältung krankmelden. In anderen Ländern, wo es solche großzügigen Fortzahlungen nicht gibt, werde Krankheit eher auch zur ökonomischen Frage.
Ziebarth, der im ZEW den Forschungsbereich „Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen“ leitet, ist überzeugt, dass sich auch in Deutschland manche Arbeitnehmer imstande fühlen, „trotz Krankheit 4 Stunden zu arbeiten, wollen dies auch, aber dürfen es gesetzlich nicht“.
„Teilzeit-Krankheitstage könnten auch in Deutschland eine freiwillige Lösung sein, auf die sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einigen könnten“, schlägt Ziebarth vor. Dies gelte nicht für alle Krankheiten. „Aber wer beispielsweise mit seinem kranken Kind zum Arzt müsse, muss deshalb nicht unbedingt einen ganzen Tag krankgeschrieben werden, sondern könnte nach dem Besuch auch noch 4 Stunden arbeiten.“
Krank und arbeiten: System auf dem Prüfstand für Deutschland
Das Bundesgesundheitsministerium der Vorgängerregierung hatte bereits 2018 prüfen lassen, ob die Teilarbeitsfähigkeit in Skandinavien auf Deutschland übertragbar wäre. Die IGES-Gutachter empfahlen, den Perspektivwechsel weg von „der Arbeitsunfähigkeit als Entweder-Oder-Entscheidung hin zur Konzentration auf die verbliebene Arbeitsfähigkeit“ zu prüfen. Die Förderung der Rückkehr erkrankter Arbeitnehmer ins Arbeitsleben sei positiv.
Allerdings sahen die Experten damals noch viele offene Fragen und Hürden. Unter anderem, wie die individuelle Teilarbeitsfähigkeit je nach Krankheit adäquat eingeschätzt werden könne und wie Schnittstellen zwischen Arbeitgebern, Kranken- und Sozialkassen koordiniert werden können. Hier besteht ein weiterer Unterschied: In Schweden wird das Gesundheitssystem aus Steuern finanziert, in Deutschland von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Der ZEW-Ökonom Ziebarth sieht in Teil-Krankschreibungen dennoch „keine Wunderwaffe für geringere Fehlzeiten“. Hier seien auch andere Ursachen wie Zufriedenheit im Job maßgeblich. Auch rät Ziebarth von einer Abkehr von der vollen Lohnfortzahlung ab dem ersten Tag ab: „Die Deutschen wünschen sich diese Form der sozialen Gerechtigkeit.“
Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) | Private Krankenversicherung (PKV) | |
Beitrag | Vom Einkommen abhängig: Arbeitnehmer und Arbeitgeber teilen sich den Beitrag. | Setzt sich aus individuellem Risiko und gewähltem Tarif zusammen: Beiträge werden vom Versicherten getragen, der Arbeitgeber zahlt einen Zuschuss. |
Leistung | Ein einheitlicher Leistungskatalog für alle Versicherten ist gesetzlich festgelegt. | Die Leistungen sind individuell wählbar und abhängig vom gewählten Tarif. Oft sind die Leistungen umfangreicher als in der GKV. |
Zugang | Pflichtversicherung für Arbeitnehmer unter der Jahresarbeitsentgeltgrenze, freiwillige Versicherung möglich. | Zugänglich für Selbstständige, Beamte, Studenten und Arbeitnehmer über der Jahresarbeitsentgeltgrenze. |
Vergleich | Solidarprinzip: Kosten werden unter allen Mitgliedern verteilt, unabhängig vom individuellen Gesundheitsrisiko. | Äquivalenzprinzip: Beitrag richtet sich nach Alter, Gesundheitszustand und Leistungsumfang. |
Kosten | Grundsätzlich gleichbleibende Beiträge im Alter; gesetzliche Zuzahlungen für bestimmte Leistungen können anfallen. | Beiträge können im Alter steigen; private Krankenversicherungen bieten oft Tarife mit Altersrückstellungen an, um Kostensteigerungen abzufedern. |
Versicherungspflicht | Für Arbeitnehmer unter der Jahresarbeitsentgeltgrenze, für bestimmte Gruppen wie Rentner und Arbeitslose besteht Versicherungspflicht. | Keine Versicherungspflicht; Versicherung wird privat abgeschlossen und ist nicht einkommensabhängig. |
Wechsel | Wechsel in die PKV möglich, wenn Einkommen dauerhaft über der Jahresarbeitsentgeltgrenze liegt. | Rückkehr in die GKV ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich, z. B. bei Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. |
Kostenübernahme | Direkte Abrechnung mit den Leistungserbringern durch die Krankenkasse. | Versicherte erhalten Rechnungen direkt vom Leistungserbringer und reichen diese zur Erstattung bei der PKV ein. |
Zusatzkosten | Gesetzlich festgelegte Zuzahlungen für Medikamente, Heil- und Hilfsmittel; Möglichkeit für zusätzliche private Zusatzversicherungen. | Höhere Selbstbeteiligungen möglich, je nach Tarif; Zusatzversicherungen für Bereiche, die nicht durch den Basistarif abgedeckt sind. |