Essen. Politische Gefangene mussten in der Haft im Akkord arbeiten. Auch Aldi Nord und Aldi Süd sollen Strumpfhosen verkauft haben.
- Im größten Frauengefängnis der DDR waren rund 8000 politische Gefangene inhaftiert.
- Sie lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammen mit Kriminellen und mussten in der Haft im Akkord arbeiten.
- Eine Studie zeigt, wie Strumpfhosen und auch Bettwäsche ihren Weg in den Westen fand - auch in Aldi-Märkte.
Als Elke Schlegel vor den Strumpfhosen im Regel bei Aldi stand, erstarrte sie. Plötzlich sei alles wieder da gewesen, erzählt sie: Die Gefängniszelle, die sie sich mit 40 Frauen teilen musste. Der stickige Raum mit all den Nähmaschinen. Die Dämpfe, die von dem heißen Blech aufstiegen, auf dem Elke Schlegel Strumpfhosenbeine in Form ziehen musste. 1400 Stück am Tag. Acht Stunden lang. Strumpfhosen, da ist sich die ehemalige politische Gefangene des berüchtigten DDR-Frauengefängnisses Hoheneck sicher, die sie später im Westen im Aldi-Regal gesehen habe.
„Ich habe die farbigen Markierungsfäden erkannt, die wir benutzen mussten“, sagt Schlegel heute. „Mir ist die Luft weggeblieben.“
Das größte DDR-Frauengefängnis: 8000 politische Gefangene
Im Frühjahr 1984 saß Elke Schlegel mehr als drei Monate in dem größten Frauenzuchthaus der DDR, in der Burg Hoheneck im Erzgebirge. Etwa 24.000 Frauen waren dort in der Zeit der DDR inhaftiert - Kriminelle, Mörderinnen, aber auch rund 8000 politische Gefangene. Frauen wie Elke Schlegel, die nichts weiter wollten, als die Anerkennung der Menschenrechte und einen Weg aus der DDR. Sie litten dort unter menschenunwürdigen Bedingungen, unter Gewalt, fehlender Hygiene - und Zwangsarbeit, wie es sie auch in anderen DDR-Gefängnissen gegeben hat.
Von dieser Zwangsarbeit auch politischer Gefangener, so beklagen Opferverbände heute, hätten mehrere Hundert West-Firmen profitiert - darunter große Handels- und Kaufhäuser, die Kameras, Kassetten oder eben Strumpfhosen aus der billigen Haftproduktion verkauft haben sollen. Als einziges Unternehmen hat sich bislang Ikea dazu bekannt. Zwei Unternehmen, so der Vorwurf, sollen Aldi Nord und Aldi Süd sein, deren Sitze in Essen und Mülheim sind. Sie sollen über Jahre hinweg Textilien aus der DDR-Zwangsarbeit verkauft haben.
„Millionen Strumpfhosen aus DDR-Zwangsarbeit“: Opferverbände fordern Aufarbeitun
„Es steht völlig außer Zweifel, dass die beiden Aldis jährlich Millionen Strumpfhosen bezogen haben, die in Hoheneck produziert worden sind“, sagt Dieter Dombrowski, der Bundesvorsitzende der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft. „Wir fordern von den Unternehmen, dass sie das anerkennen und ihre Firmengeschichte aufarbeiten. Sie müssen mit uns ins Gespräch kommen.“
An diesem Donnerstag hat sich Dombrowski an den Aldi-Nord-Campus nach Essen eingeladen, um solch ein Gespräch einzufordern. Mitgebracht hat er Beispiele für die Strumpfhosen der Marken „Sayonara“ und „Iris“, die in Hoheneck auch von politischen Gefangenen gefertigt worden sind. Historische Werbung zeigt, dass diese Marken im Discounter für 79 Cent verkauft worden sind.
Studie zeigt Lieferketten: Wie Ware aus Zwangsarbeit ihren Weg in den Westen fand
Und Dombrowski hat eine Studie der Humboldt-Universität im Gepäck. Die Berliner Fachleute haben unlängst durch zahlreiche Dokumente, Lieferscheine und Zeitzeugenaussagen regelrechte Lieferketten nachvollziehen können, über die Waren aus den Gefängnissen ihren Weg in den Westen fanden.
Offiziell durften Firmen in Ost und West keinen Handel miteinander treiben. Organisiert war das für beide Seiten profitable Geschäft über Zwischenstellen - im Fall der Strumpfhose war auch das Kombinat „Esda“ Thalheim eingebunden, das ein wichtiges Devisengeschäft für die DDR war. Das Kombinat bezog laut Studie auch Waren aus Hoheneck. In dem 120-seitigen Dokument werden Liefer- und Versandscheine von 1988 und 1989 abgedruckt, die die „Firma Albrecht, Essen“ als Kunde benennen (die Vorstudie lässt sich hier abrufen).
„Wir fordern von den Unternehmen, dass sie ihre Firmengeschichte aufarbeiten. Sie müssen mit uns ins Gespräch kommen.“
In der Suppe schwammen die Maden
Esda hieß auch das Arbeitskommando, dem Elke Schlegel in Hoheneck zugeteilt worden ist. Sie war wegen „versuchter Republikflucht“ verhaftet worden, obwohl sie, ihr Freund und der gemeinsame damals zweijährige Sohn bereits eine bewilligte Ausreise in der Tasche hatten. Die Stasi hatte Schlegel im Blick, wohl nicht erst, seit sie sich in Jena der Protestgruppe „Weißer Kreis“ angeschlossen hatte. Am 28. März 1984 sei das Überfallkommando gekommen, erinnert sich Schlegel, „zur Klärung eines Sachverhalts, was sie das dann so nannten“. Als sie ihren Sohn nicht in die Krippe, sondern zur Mutter bringen sollte, habe sie gewusst: „Ich komme erst einmal nicht wieder.“
Die Erzählungen aus Hoheneck setzen sich zu einem Mosaik der Grausamkeiten zusammen. Schlegel berichtet von der Kindsmörderin, die in der Zelle mit den dreistöckigen Betten das Sagen gehabt habe und Prügelstrafen zuteilte. Sie erzählt von der Angst vor Übergriffen, von den Zellen für Isolationshaft, von der Suppe, in der Maden schwammen. Und sie erzählt von der Zwangsarbeit: Gearbeitet worden sei im Akkord und im Dreischichtsystem an Nähmaschinen und Heißformer in einem Raum mit vergitterten, geschlossenen Fenstern. Wer Normen nicht schaffte, sei bestraft worden. Schlegels Körper sei auf unter 40 Kilogramm abgemagert gewesen. Er habe die acht Stunden oft nicht durchgehalten.
In der Bundesrepublik sieht sie die Gefangenen-Arbeit in einem Kaufhaus
Dass sie und die Mitinsassinnen Waren herstellten, die auch an den Westen gegangen sein sollen, darüber habe man in Hoheneck spekuliert. „Es gab ein Arbeitskommando, das Bettwäsche hergestellt hat. Solche Muster hat man nie in der DDR gesehen, das war viel zu fein“, sagt die heute 66-Jährige.
Sicher wusste Schlegel es erst, als sie in den Westen kam. Die Bundesrepublik hatte sie 1984, nach über drei Monaten in Hoheneck, als eine von vielen politischen Häftlingen freigekauft. Ein Cousin habe sie in ein Kaufhaus gebracht, um ihr die Auswahl des Westens zu zeigen. „Ich habe geweint, als ich dort auf einem Wühltisch die Bettwäsche wiedererkannt habe.“ Irgendwann habe sie eine Strumpfhose gebraucht und bei einem der Aldi-Märkte danach gesucht. Als sie das Produkt erkannte, habe sie es liegengelassen. „Ich trage bis heute keine Strumpfhosen mehr“, sagt die Koblenzerin.
Gemeinsame Erklärung von Aldi Nord und Aldi Süd
Dieter Dombrowski, der Bundesvorsitzende der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft, muss an diesem Donnerstag ohne ein Gespräch mit Aldi Nord den Campus in Essen verlassen.
In einer schriftlichen Erklärung der Unternehmensgruppen Aldi Nord und Süd heißt es, man stehe bereits seit mehreren Jahren im Austausch mit dem Verein und bedauere zutiefst, die in der ehemaligen DDR offenbar übliche Praxis, politische Häftlinge und Strafgefangene unter Zwang für die Produktion von Gütern einzusetzen. „Aufgrund des großen zeitlichen Abstands zu den Vorkommnissen ist es Aldi Nord und Aldi Süd nicht möglich, weitere Erkenntnisse beizutragen, um bei der Aufklärung zu unterstützen.“ Das sei den Verantwortlichen immer wieder erklärt worden. 2014 hatten Aldi Nord und Aldi Süd anlässlich einer Recherche von „Report Mainz“ gegenüber dieser Redaktion bestätigt, „Geschäftsbeziehungen“ zu dem Strumpfkombinat unterhalten zu haben. Hinweise, dass dieses Aufträge an ein Gefängnis vergeben habe, habe es nicht gegeben.
Hoheneck ist heute eine Gedenkstätte. Bei einem Besuch sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich, er wünsche sich, dass Unternehmen, die damals Produkte aus DDR-Fertigung importierten, bei dieser Aufklärung mithelfen und den Austausch mit den ehemaligen politischen Häftlingen suchten. „Das wäre mindestens eine notwendige, aber auch gute Geste des Respekts.“